Wie bereits geschrieben: Wir Menschen kommen ziemlich dumm auf die Welt. Manchmal stelle ich mir vor, ich bin gerade neu geboren – sagen wir, es war eine unproblematische Hausgeburt – und so liege ich nun in meinem frisch eingerichteten Zimmer in meinem Bettchen und starre unter die Decke. Oder nein, auf das Häkeltier-Mobile, das Mama und Papa so angebracht haben, dass es direkt über meinem Kopf baumelt.
Das Problem: Ich kann ja noch nicht mal richtig gucken. Geschweige denn, mich an gehäkelten Stofftieren zu erfreuen (die hat bestimmt Papa gemacht). Im Mutterleib war es ziemlich dunkel, und jetzt strömen unbekannte Farben und Formen auf mich ein – keine Ahnung, was das alles soll. Aber dieses neuartige Licht entfacht ein gewaltiges Synapsenfeuerwerk in mir. Finde ich das schön? Oder nur beängstigend? Jedenfalls kann ich nichts damit anfangen, denn ich kann meine Augen weder zielgerichtet bewegen noch scharfstellen noch verstehen, was sie mir liefern. Es wird Wochen dauern, Monate, bis mein Hirn begreift, dass die Augen ein Bild meiner Umwelt liefern. Dass zwei Augen auch zwei leicht unterschiedliche Bilder erzeugen, die man, wenn man es geschickt anstellt, in der Art übereinanderlegen kann, dass sie gemeinsam eine Vorstellung des Raumes vermitteln – was war noch ein Raum?
Die Augen eines Babies lernen nicht anders, als jede künstliche Intelligenz. Sie brauchen Trainingsdaten, um sich entwickeln zu können. Fehlen diese Daten (z.B. in einem tristen Raum ohne optische Reize), entwickelt sich auch das Sehen nicht. Insofern tut das komische Mobile über meinem Kopf einen guten Dienst. An ihm können meine Augen sich abarbeiten, lernen, Farben und Formen zu unterscheiden, sie zu verfolgen, scharfzustellen, sie wiederzusuchen, wenn sie sie mal verloren haben, weil Mama mich zwischendurch angelächelt hat. Das Mobile ist meine erste Sammlung an Trainingsdatensätzen. Und ohne Training blieben meine Augen quasi blind – im Sinne von nicht funktional.
Das Wort abarbeiten (An ihm können meine Augen sich abarbeiten …) habe ich bewusst verwendet. Denn was meine Augen in den ersten Sehwochen leisten, ist harte Arbeit. Keiner der Augenmuskeln ist zu Beginn stark genug für diese Leistung. Auch in meinem Gehirn passieren enorme Dinge, und all das muss ich auch mental und seelisch verarbeiten. Aber mit langen Schlafpausen zwischendurch überstehe ich die harte, wenngleich spannende Zeit. Und danach – kann ich sehen! Leidlich zunächst. Aber ich werde auch weiterhin über mich hinauswachsen – wortwörtlich.
„Das Beschwerliche ist aber gerade das, was euch klug macht und stark.“
Sally in „Entgrenzt“ von Peter Coon
Warum dieser Blick zurück in meine ersten Lebenstage? Weil er zeigt, wie wichtig Training ist, nicht nur für KI, auch für natürliche neuronale Netze wie unser Nervensystem. Training ist essenziell, wenn wir etwas lernen, ob als Kind oder als Erwachsener. Genauso wichtig ist Training allerdings, um Gelerntes nicht wieder zu verlernen. Unser Organismus ist sehr anpassungsfreudig. Überfordere ich ihn, wird er stärker werden, unterfordere ich ihn, wird er Fähigkeiten abbauen. Das wissen alle, die schon mal über Wochen mit einem Gipsbein leben mussten und die anschließend erschreckt waren über die dünnen Muskeln des entgipsten Beines. Das wissen auch alle Schulkinder nach dem Ende der Sommerferien. Und natürlich die Bodybuilder nach zwei Monaten Trainingsentzug.
Training ist beschwerlich. Training ist Arbeit. Auch das wissen besonders Schulkinder und Bodybuilder. Training bedeutet auch den Einsatz von Lebenszeit und den Verzicht auf Bequemlichkeit. Mit Verzicht aber haben wir es nicht so, mit Bequemlichkeit eher.
Bequemlichkeit, […] Charakterzug eines Menschen, welcher alle Mühe u. Anstrengung scheut u. möglichst zu vermeiden sucht.
Bequem sind wir alle. Das steckt in unserer DNA. In der Frühzeit der Menschheit hatte Bequemlichkeit vielleicht den Vorteil, dass sie zum Ausruhen mahnte und damit zum Energiesparen. Energie hatte man nie genug, Training dagegen schon. Technische Errungenschaften, die das harte Leben des Mängelwesens Mensch in feindlicher Umgebung erleichterten, waren rar gesät. Selbermachen war angesagt. Jeder Handgriff, jeder Schritt musste selbst getan werden. Und das kostete Energie. Gut, dass die Bequemlichkeit uns manchmal zum Müßiggang ermahnte. Auch für den Geist war es sicher gut, einmal abzuschalten.
Heute haben wir in der westlichen Welt keine Energieprobleme mehr. Wir essen mehr als wir sollten, gleichzeitig bewegen wir uns viel weniger. Wir können dem Trieb nach Bequemlichkeit nachgeben. Sogar bei der Arbeit: Ein bequemer Bürostuhl ist das Mindeste. Er ermöglicht es uns, stundenlang am PC zu arbeiten, ohne unsere Haltung zu verändern. Er stützt unseren Körper und entlastet unsere Rückenmuskeln, sodass sie länger durchhalten. Gut für die Arbeit, schlecht für unseren Rücken. Er wird schwächer mit den Jahren und kann seine Alltagsaufgaben (den Oberkörper tragen oder auch mal einen Wasserkasten) nicht mehr erfüllen. Gleichzeitig aber tragen wir nicht genug Wasserkästen, um ihn abseits des Berufes wieder aufzubauen. Leidtragende sind dann die Bandscheiben, die irgendwann schon beim morgendlichen Aufstehen versagen. Ein Ausweg bietet Sport, etwa im Verein oder im Fitnessstudio. Da wir aber bequem sind, fahren wir mit dem Auto dorthin, das einen ähnlichen Effekt auf uns hat wie schon der komfortable Bürostuhl. Absurd ist das, aber absolut üblich.
Das Gegenteil von Bequemlichkeit hält einen jeden Rücken gesund und leistungsfähig: regelmäßige Bewegung. Regelmäßige Anstrengung. Regelmäßige Unbequemlichkeit. Sally (s.o.) würde sagen: „Regelmäßig Beschwerliches“. Unsere Bequemlichkeit aber hindert uns an Bewegung und Aktivität, sie lässt uns Beschwerlichkeit meiden. Damit hindert sie uns am Gesundbleiben, aber auch daran, Gelerntes zu erhalten. Uns Erwachsene jedenfalls. Wie gut, dass Kinder nicht so auf Bequemlichkeit stehen (außer, wenn sie mit dem Auto in die Schule gebracht werden wollen).
Kinder sind anstrengend. Manchmal für ihre Eltern oder ihr Umfeld, immer aber für sich selbst. Kinder fordern sich, überfordern sich mitunter, bis sie nicht mehr können. Auf einem Spielplatz sitzen die Erwachsenen auf den Bänken, während die Kleinen im Sand toben. Sie tun das nicht, weil sie die Beschwerlichkeit des Tobens lieben, sondern das Abenteuer darin. Sie wollen etwas erleben, sie sind neugierig, sie wollen sich ausprobieren. Das wiederum liegt in der DNA der Kinder. Wäre das anders, würden sie nichts lernen, nicht körperlich und nicht geistig. Dieses Abmühen der Kinder aus eigenem Antrieb ermöglicht ihnen das Überleben als Erwachsene. Erstaunlich, dass dieses Verhalten im Erwachsenenalter verkümmert.
Das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung hat einen wunderbaren Artikel veröffentlicht mit dem Titel: Gehirnentwicklung bei Babys und Kleinkindern – Konsequenzen für die Familienerziehung. Er beschreibt u.a. die Phasen des Lernens über die verschiedenen Lebensalter hinweg. Über kleine Kinder heißt es dort:
Von Anfang an sind sie Forscher, die alles ausprobieren, handhaben und testen müssen […]. Auf diese Weise lernen sie extrem viel – bei weitem mehr als in späteren Entwicklungsphasen. Und sie lernen aus intrinsischer Motivation heraus – weil sie es "wollen", weil sie beim Lösen von "Problemen" Freude empfinden und auf neu Gelerntes "stolz" sind.
„Gehirnentwicklung bei Babys und Kleinkindern“, Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung
Und das Folgende wird dort über spätere Lebensjahre ausgesagt:
Ab dem 10. Lebensjahr gewinnt dann das Prinzip des "Use it or loose it" (Benutze es oder verliere es) eine überragende Bedeutung: Das Gehirn wird optimiert, d.h. diejenigen Synapsen, die häufig gebraucht werden, bleiben erhalten; die anderen werden eliminiert. Die Struktur des Gehirns spiegelt zunehmend die vorherrschenden Aktivitäten und Beschäftigungen der jeweiligen Person wider.
„Gehirnentwicklung bei Babys und Kleinkindern“, Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung
Use it or loose it, das ist mal eine Ansage! Auch die Fähigkeiten, die man längst beherrscht, müssen trainiert werden, wenn sie weiterhin bestehen sollen. Dieser Tatsache müssen wir uns stellen. Eigentlich eine Binsenweisheit, und doch habe ich das Gefühl, es hier ausdrücklich betonen zu müssen.
Nicht nur in der künstlichen Intelligenz ist Training der eine Weg zum Können. Das Können wiederum ist der Weg zum Überleben – des Individuums wie auch der Gattung. KI aber ist in der Lage, uns Beschwerliches abzunehmen. Neben handfesten Aufgaben wie in der Medizintechnik oder der Logistik-Optimierung dient KI (wie jede Technologie) schon heute in überragender Weise der Bequemlichkeit. Früher musste man ein Feuer anzünden, um es nachts hell zu haben, später wenigstens die Petroleumlampe. Noch etwas später reichte es, einen Lichtschalter zu drehen, später zu drücken. Heute sagt man: „Alexa, Licht an“ und muss nicht mal mehr aus dem Sessel aufstehen. Morgen wird man auch nicht mehr sprechen müssen, denn dann weiß die SmartHome-Steuerung selbstständig, wann ein bestimmtes Individuum Licht haben möchte und wann nicht. Das ist der vorgezeichnete Weg. Bald werden Menschen nicht mal mehr einen Schalter drücken können, so wie ich heute kein Feuer aus dem Nichts machen kann.
Ich gehe davon aus, dass die wenigsten Erwachsenen ihre Fähigkeiten, körperliche wie geistige, im Laufe ihres Lebens verlieren wollen. Gegen Ende des Lebens ist das natürlich nicht vermeidbar, aber davor liegen hoffentlich viele Jahre eines aktiven Erwachsenenlebens.
Wenn wir nicht vorzeitig abbauen wollen, bedeutet das für uns, ein gewisses Maß an Beschwerlichkeit in unserem Leben – nein, nicht zuzulassen, sondern anzustreben!
weiter zu:
Wozu überhaupt Können?