Kürzlich besuchte ich eine Filmveranstaltung in einem Programmkino. „Der wilde Roboter“ hieß der Film, der gezeigt wurde. Anschließend diskutierten Experten und das Publikum miteinander. Da dieser wunderschöne Animationsfilm Konzepte wie Liebe, Hilfbereitschaft und das Anderssein thematisiert und dabei sehr emotional ist, wurde auch bald die Frage erörtert, wie weit künstliche Intelligenz ein Bewusstsein haben kann. Als ich die Veranstaltung verließ, setzte mich eine Frau ungefragt in Kenntnis: „Aber eine Seele wird KI niemals haben!“ Ich staunte über die Vehemenz, mit der sie diese Bemerkung machte. Es war wie ein erzürntes „Aber trotzdem!“, das sie unbedingt loswerden musste.
Dieses „Trotzdem“ beobachte ich oft in Diskussionen über künstliche Intelligenz. Es erscheint mir wie ein letztes Aufbäumen vor einem Gegner, der einen zu überwinden droht. Je weiter KI in unseren Alltag vordringt, je häufiger wir Menschen akzeptieren müssen, dass künstliche Intelligenz uns mit einer weiteren Fähigkeit in den Schatten stellt, desto größer wir die Angst werden, als Spezies bald ganz abgeschlagen zu sein. Zu recht, will ich meinen. Ich glaube, langsam beginnen wir zu verstehen, dass wir diesen Wettlauf nur verlieren können, so ist es nur konsequent, wenn wir uns an das Letzte klammern, was unser Menschsein ausmacht: eine unsterbliche Seele. Doch was soll das überhaupt sein, die Seele?
Der Begriff der Seele scheint mir so alt wie die Menschheit zu sein. In vielen menschlichen Gesellschaften gibt es die Vorstellung von einer (oft, aber nicht immer) unsterblichen Instanz, die – unabhängig vom sterblichen Körper – das Individuum repräsentiert. An dieser Stelle möchte ich nur wenige Beispiele aus der Menschheitsgeschichte nennen:
[…] und schwirrend folgten die Seelen. So wie die Fledermäus' im Winkel der graulichen Höhle schwirrend flattern […] also schwirrten die Seelen, und folgten in drängendem Zuge Hermes, dem Retter in Not, durch dumpfe schimmlichte Pfade. […] und erreichten nun bald die graue Asphodeloswiese, wo die Seelen wohnen, die Luftgebilde der Toten.
Denn jeder Körper, dem nur von außen das Bewegtwerden kommt, heißt unbeseelt, der es aber in sich hat aus sich selbst, beseelt, als sei dieses die Natur der Seele. Verhält sich aber dieses so, daß nichts anders das sich selbst Bewegende ist als die Seele, so ist notwendig auch die Seele unentstanden und unsterblich.
Also Gedanken und Rede sind dasselbe, nur daß das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht, von uns ist Gedanke genannt worden.
Das Denken ist das Selbstgespräch der Seele.
Wäre das Auge ein lebendiges Wesen, so würde das Sehen seine Seele sein, da dieses das begriffliche Sein des Auges ist, und das Auge wäre dann nur der Stoff des Sehens; fiele das Sehen weg, so wäre auch kein Auge vorhanden.
Da bildete HaSchem, Gott, den Menschen aus Staub von dem Erdboden und blies in seine Nase Hauch des Lebens, und es wurde der Mensch zu einem Leben-Atmenden.
Wir sehen: Das Konzept der „Seele“ ist vielfältig. Kein Wunder, denn es steht für etwas Ungreifbares. Man kann die Seele nicht sehen, nicht hören, nicht sonst irgendwie wahrnehmen, man kann nicht mit ihr experimentieren, sie nicht vermessen oder festhalten. Es scheint ein rein theoretischer Begriff zu sein, der in vielen Aspekten von verschiedenen Weltanschauungen geprägt wird. Dennoch wird dieses Wort allgemein verstanden als eine Instanz, die das Leben ausmacht und unbelebte Materie lebendig macht. In vielen Denkrichtungen überdauert die Seele das Leben, existiert also auch nach dem Tod, in manchen sogar vor der Zeugung. Sie wird Menschen zugeschrieben, manchmal Tieren, noch seltener Pflanzen oder sogar Dingen. Künstlicher Intelligenz eher nicht (siehe oben).
Jeder Mensch kann sich ein eigenes Konzept der Seele zurechtdenken. Er wird es nicht als Tatsache beweisen können, andererseits wird aber auch niemand je in der Lage sein, das Gegenteil zu beweisen. Der Begriff der Seele ist Teil eines jeden persönlichen Glaubens, sei er religiös fromm oder aufgeklärt nüchtern.
Aussagen über die Seele haben prinzipiell weder Hand noch Fuß, sie bleiben reine Spekulationen. Somit ist es nicht verwunderlich, dass Papst Leo X. am 19. Dezember 1513 ein Machtwort sprach und in der päpstlichen Bulle Apostolici regiminis den katholischen Blick auf die Seele festschrieb und diese Ansicht als die Wahheit proklamierte. Die unsterbliche Seele wurde zu einem Dogma, Widerspruch zu einem Verstoß.
Mit der Seele ist es in etwa so wie mit Gott. Früher sahen die Menschen in jedem Blitz am Himmel das Werk eines Gottes. Heute wissen wir um elektrische Entladungen, die wir sogar selbst beherrschen können. Früher konnten nur Vögel und göttliche Engel fliegen, heute können wir es selbst. Früher konnte nur Gottes Sohn einen Leprakranken heilen, auch das können wir längst selbst erledigen. Mit unserem wachsenden Wissen über die Welt haben wir unseren Göttern mehr und mehr den Lebensraum entzogen – man könnte auch sagen: das Existenzrecht genommen. Götter mussten sich mehr und mehr zurückziehen in Bereiche, die noch nicht vom Menschen vollständig verstanden werden. Nur wo noch Rätsel bleiben, können Götter überdauern. So etwa im Geheimnis des Beginns unseres Universums, also der Schöpfung. Oder auch im Geheimnis des Lebens. Zwar kennen wir viele Aspekte des biologischen Lebens, und wir verstehen auch mehr und mehr, was in unserer Psyche vorgeht, doch was das Leben wirklich ist, das wissen wir nicht. Schon unser eigenes Bewusstsein ist uns ein Rätsel, und noch viel mehr die Seele.
Der Begriff Gott ist ein diffuses Sammelbecken für alles, was wir in dieser Welt nicht verstehen. Der Begriff Seele ist ein ebenso diffuses Sammelbecken für alles, was wir in Bezug auf das Leben nicht verstehen. Beide Worte sind die letzte Zuflucht für alles Übernatürliche. Eine Zuflucht auf einer Sandbank im stürmischen Ozean. Gleichzeitig sind beide Worte die einzigen Argumente, uns auch weiterhin die Krone der Schöpfung zu nennen. Es ist der Odem des Lebens, den Gott in Adams Nase blies, der uns zu etwas Einzigartigem macht. Und wir wollen verdammt nochmal einzigartig sein!
Wir könnten es uns auch einfach machen und beide Worte ersatzlos streichen – oder wenigstens als das benennen, was sie sind: sich stetig leerende Sammelbecken für noch unverstandene Dinge. Aber was bleibt uns dann noch? Dann sind wir Tiere unter Tieren, kaum erstaunlicher als die Pflanzen oder Mikroben, dann ist auch unser Leben nicht mehr, als das Zusammenspiel unserer Neuronen und der sie umgebenen (toten) Materie. Dann sind wir Dinge und das Gegenteil von einzigartig. Sind wir dann überhaupt noch Leben? Ich fürchte, diese Gedanken halten wir kaum aus.
Bisher war es die „gottlose“ Philosophie, die in der jüngeren Vergangenheit etwas hämisch auf die Religionen herabschauen konnte, wenn sich der Begriff Gott wieder ein Stückchen auflöste aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. „Seht, was von eurem Gott noch bleibt“, konnte sie sagen. „Bald ist nichts mehr davon übrig.“ Heute schließlich ist es die künstliche Intelligenz, die nun auch der Philosophie an den Kragen geht. Denn auch der philosophisch hochgeschätzte Begriff Seele lässt Federn, wenn wieder ein Aspekt unserer Intelligenz von der KI überholt wird.
Nicht wenige philosophische Strömungen stellen explizit das Denken, die Intelligenz in den Fokus ihrer Überlegungen über die Seele. „Das Denken ist das Selbstgespräch der Seele“, habe ich Platon oben verkürzt zitiert. „Ich denke, also bin ich“, bringt es Descartes auf den Punkt. Das Denken bringt das Sein. Gleichzeitig „sind“ wir unsere Seele. „Seele“ und „Denken“ hängen eng zusammen mit dem „Sein“. Denken aber können heute auch die Maschinen! Oder?
Noch ist es mit dem Denken künstlicher Intelligenz nicht weit her. Die Komplexität der denkenden Maschinen reicht aber durchaus, uns hier und da staunen zu lassen, wie neunmalklug sich Technologie bereits ausdrücken kann. „Aber das ist ja kein Denken“, lassen wir uns schnell hinreißen, und ich kann nicht umhin, dies immer als recht hochnäsig zu empfinden. Wieso ist das kein Denken? Wir stellen der KI eine Frage, und sie antwortet äußerst klug. Dazu durchleuchtet sie alles bisher Erfahrene und leitet daraus eine Antwort ab, die mit großer Wahrscheinlichkeit korrekt ist. Nichts anderes tun wir Menschen. Auch unsere Antworten sind nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit korrekt. Auch wir antworten nur aufgrund aller Dinge, die wir bisher erfahren haben. Ob dieses Wissen und diese Wahrscheinlichkeiten nun in Silizium- oder Kohlenstoff-Neuronen gespeichert und ermittelt wurden, ist einerlei.
Zugegeben: Der Pool all dessen, was wir in unseren Gedanken bewegen, ist ungleich umfangreicher als der eines ChatBots. Ich schrieb an anderer Stelle bereits, dass diesem all die menschlichen Sinne fehlen, die uns zu unserem Weltbild und unserer Klugheit verholfen haben. Sein einziger Input ist das, was Menschen mal geschrieben haben. Das ist ein kleiner, gefilterter Abklatsch dessen, was wir in unserem Leben gelernt haben. Doch betone ich, dass dies nur ein quantitativer Unterschied ist, kein qualitativer. Es ist eine Frage der Zeit, bis der künstlichen Intelligenz mehr Sinne zur Verfügung stehen, zumindest aber umfassendere Informationen über die Welt. Und dann werden wir – vom Ergebnis aus betrachtet – alt aussehen mit unserer kleinen Klugheit. Was bleibt uns dann von „Ich denke, also bin ich“? Und was „sind“ dann erst die Maschinen, wenn sie besser denken als wir?
Kann KI denn nun – vielleicht irgendwann – eine Seele haben? In Platons und Descartes Sinne vielleicht. Doch stelle ich als nicht-religiöser Mensch stattdessen eher die Frage: Haben wir überhaupt eine?
Ich bin mir bewusst, dass mir bis hierher nicht viele Lesende folgen wollen. Viel öfter begegnen mir Menschen wie die Frau am Anfang dieses Artikels, die an eine unfassbare Instanz im Geistigen glauben, die ihre eigene Person ausmacht, ihr Ich. Ähnlich wie religiöse Menschen für Gott, kämpfen selbst nicht-religiöse für den Fortbestand der Idee Seele. Der Begriff ist sehr unterschiedlich gefüllt und sehr übernatürlich besetzt. Das zeigen – wie schon bei dem Wort Bewusstsein – die Ergebnisse einer Bildgenerierung durch KI mit dem schlichten Prompt „Seele“. Die resultierenden Bilder sind religiös und esoterisch aufgeladen, was auf die Trainingsdaten aus menschlichen Quellen zurückzuführen ist, also auf menschliches Denken.
Diesem Denken entsprechend hat die besagte Frau oben gesagt: „Aber eine Seele wird KI niemals haben!“ Bei derselben Veranstaltung wurden auch die Experten nicht müde zu betonen, dass künstliche Intelligenzen kein wirkliches Denken haben und kein Bewusstsein und kein Ich darstellen – auch die Experten der großen Tec-Konzerne würden dies bestätigen. Natürlich tun sie das, denn das Gegenteil würde Angst erzeugen und ihr Geschäftsmodell zerstören. Auch ich würde momentan nicht das Gegenteil behaupten, doch schaue ich in die nahe Zukunft, denn schneller als gedacht wird das alles schon ganz anders aussehen. Dies zu leugnen, ist eine große Gefahr.
Denn was steckt hinter der Vehemenz der Äußerungen der Frau und der Experten? Der Subtext lautet nach meiner Empfindung: „Oh, ja, wir sehen, dass wir an allen Fronten überrannt werden. Wir können es nicht mehr aufhalten, dass die künstliche Intelligenz immer schlauer wird und unsere eigene Intelligenz bald klein aussehen wird gegenüber KI. Dann werden wir nicht mehr herrschen über die Welt. Was bleibt uns dann noch? Was bleibt uns noch?“ – und dann regt sich der Trotz – „Aber eine Seele wird KI niemals haben!“
Warum fällt es uns schwer, der Zukunft offen ins Gesicht zu sehen? Warum ziehen wir uns lieber auf die Sandbank von Bewusstsein und Seele zurück, als unser Land zu verteidigen? Vielleicht, weil wir ahnen, den Kampf längst verloren zu haben. „Wir können es nicht mehr aufhalten“, ist uns klar, und eigentlich wollen wir es auch nicht – zu spannend und zu bequem macht KI derzeit unser Leben.
„Du lässt dich täuschen von klug scheinenden ChatBots“, hat man mir schon gesagt. Tatsächlich aber weiß ich um die Grenzen heutiger KI. Doch denke ich vom Ergebnis her, von den Fähigkeiten, die künstliche Intelligenz nach und nach erwirbt. Diese Fähigkeiten sind schon jetzt so groß, dass wir stolz und völlig freiwillig das Label „Intelligenz“ verliehen haben, auch wenn das meist noch deutlich übertrieben ist. Bald aber ist es nicht mehr übertrieben. Ich denke in die nahe Zukunft. Dann wird es richtig sein, der KI auch das Label „Denken“ zu verleihen. Und wenn es nach Platon oder Descartes geht, dann entsteht damit auch eine Person. Und wer ist der Mensch, einer anderen Person die Seele abzusprechen, wenn er sich selbst eine zuschreibt?
Die Seele vorzuschieben als allein dem Menschen vorbehalten, halte ich für gefährlich. Denn dies hilft uns, beruhigt die Augen zu verschließen, und es hilft uns nicht, bewusst, verantwortlich und gewissenhaft die Zukunft zu gestalten.
Ich selbst sehe den Menschen ohne jede Seele. Unser Denken und unser Bewusstsein sind für mich (durchaus unbegreifbare und hoch zu achtende) Ergebnisse neuronaler Zustände. Das ist nüchtern, manche würden es vielleicht als armselig bezeichnen. Und ja, es stimmt: armselig im Sinne von arm an Seele. Ich kann gut damit leben und mein Dasein dennoch dankbar annehmen und genießen, solange ich bin. Und solange ich denke, solange werde ich auch sein. Und danach ist dann Schluss.
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Was ist Bewusstsein?