Was gibt es über das Wissen schon zu sagen? Menschen haben Wissen, Computer irgendwie auch und damit auch die künstliche Intelligenz – die KI vielleicht bald mehr als wir Menschen. Jeder und jede weiß, was Wissen ist. Will man dennoch mehr darüber erfahren, kann man etwa ein etymologisches Wörterbuch konsultieren und landet nach Elmar Seebold bei der indoeuropäischen Wurzel u̯eid- oder bei lateinisch vidēre, was „sehen, wahrnehmen, erkennen“ bedeutet. Hieraus wird deutlich, dass ein grundlegender Pfeiler des Wissens die Sinne sind und unsere Wahrnehmung. Ohne Wahr-Nehmung keine Erkenntnis. Was sollten wir auch schon in unserem Hirn abspeichern, wenn wir gar nichts erfahren? Und welche Dinge sollten wir mit unserem Denken hin und her wälzen, wenn es nichts gibt, das wir je gespeichert haben?
Wer Demut lernen will, spiele Memory mit einem Kind :-)
Unser Gehirn hat offensichtlich die Fähigkeit, Informationen abzuspeichern, d.h. so aufzuarbeiten, dass sie sich in biologische Prozesse einbetten lassen und späterhin wieder abrufbar sind. Dieses Phänomen nennt sich Gedächtnis. Auch Computer haben ein Gedächtnis in Form verschiedener Speicherformen. Es gibt permanente Speicher (wie Festplatten), und es gibt flüchtige Speicher, die ihren Inhalt vergessen, sobald ihnen der Strom abgeschaltet wird. Es gibt langsame Speicher (wie Festplatten) und schnelle, die tief in die Prozessorarchitektur eingebaut sind und essenzielle Effekte auf die Rechengeschwindigkeit haben.
Ähnliche Unterscheidungen gibt es auch in unseren Köpfen. So haben wir ein Kurzzeitgedächtnis und ein Langzeitgedächtnis. Ersteres ist wichtig für unser bewusstes Denken und scheint recht begrenzt zu sein. Es wird auch als Arbeitsgedächtnis bezeichnet und hilft uns, in unserem Alltag zurechtzukommen. Ergebnisse des Denkens oder auch Erlebnisse und Emotionen können dann im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Auch ein Ultrakurzzeitgedächtnis soll es geben, das auch sensorisches oder ikonisches Gedächtnis genannt wird. Es ermöglicht uns, Sinneseindrücke zu erinnern, die nur kurze Zeit zurückliegen und die wir nur unbewusst wahrgenommen haben (etwa Worte wiederholen, die wir zwar gehört aber nicht bewusst registriert haben). Ob all diese Teil-Gedächtnisse – ähnlich wie bei Computern – tatsächlich in unterschiedlichen Hirnbereichen untergebracht sind, ist mir nicht bekannt. Tatsache ist aber, dass sie erkennbar unterschiedlich arbeiten.
Es gibt weitere Kriterien, nach denen gespeicherte Informationen kategorisiert werden können. So unterscheidet man zwischen dem deklarativen und dem prozeduralen Langzeitgedächtnis. Im deklarativen Gedächtnis liegt etwa unser Faktenwissen, unsere Kenntnisse über unsere Welt und das Zeitgeschehen (z.B. dass es heute geschneit hat). Das prozedurale Gedächtnis hält unser Können bereit, das auch unbewusst zur Verfügung steht: gehen, Fahrrad fahren, Schleife binden, …
Alles, was in diesen Gedächtnissen untergebracht ist, könnte man als Wissen bezeichnen. Dies würde alles ausmachen, was unser geistiges Leben zu bieten hat: Erlebnisse, Erkenntnisse, Emotionen, usw. Dies entspricht nicht unbedingt unserem Sprachverständnis von Wissen, doch wenn wir von der Wortbedeutung vidēre „sehen, wahrnehmen, erkennen“ ausgehen, dann ist dies schon korrekt. Denn jede einzelne unserer Wahrnehmungen schlägt sich in irgendeiner Form in diesen Gedächtnissen wieder, mal länger, mal weniger lang. All dies ist irgendwo in unserem Nervensystem in Neuronen und Synapsen kodiert. Kodiert?
Dass es gerade eben, kurz bevor ich diese Zeilen schreibe, vor meinem Fenster tatsächlich schneite, ist ein Fakt. Es ist Teil der Weltgeschichte, es hat sich wirklich zugetragen. Dass ich mich auch jetzt noch, Minuten nachdem ich aus dem Fenster geschaut habe, daran erinnern kann, verdanke ich meiner Fähigkeit zu wissen. In meinem Kopf ist aber nicht der Schnee gespeichert, auch nicht der tatsächliche Vorgang des Schneiens, es ist nur eine Information darüber, also etwas rein Virtuelles – im Gegensatz zum Reellen, Realen oder physisch Existierenden. Es ist nicht leicht, darüber nachzudenken, woraus diese Information besteht. Sicherlich enthält sie einen Zeitpunkt, einen Ort und eine Beschreibung des Geschehenen, alle mit einer bestimmten Genauigkeit oder eben Ungenauigkeit. So habe ich nicht den Flug jeder Schneeflocke abgespeichert, die ich habe niedersinken sehen; nicht annähernd. Ich habe nur gespeichert, dass es schneite. Bestenfalls habe ich noch ein Maß für die Schnei-Intensität behalten, für die ungefähre Dichte und Dicke der Schneeflocken, für den Wind, der sie durcheinanderwirbelte. Was ich in meinem Kopf speichere, hat nur auf einer virtuellen Ebene mit dem zu tun, was wirklich geschah. Es sind Konzepte, die ich speichere. Das sinnliche Erleben des Schneiens habe ich blitzschnell und unbewusst umgebaut in eine Vielzahl von Konstrukten, deren Aufbau sich an meiner gesamten Vorgeschichte orientiert. Das meine ich mit kodieren.
So weiß ich aus früheren Tagen, wie sich Schneien anfühlt. Ich muss nicht hinausgehen, um zu erfahren, wie kalt Schnee ist. Ich weiß es. Denn schon als Kind habe ich solche Konstrukte gespeichert, und zwar ungemein vielfältig. So weiß ich, wie Schnee aussehen kann. Ich weiß auch, wie sich die Umwelt anders anhört, wenn Schnee liegt. Ich weiß um die Kälte, die Nässe, das Vergehen der Schneeflocken, wie Schnee sich anfühlt, zusammenpappt oder zwischen den Fingern zerrieselt. Und ich habe bestimmte Gefühle, wenn es schneit – ebenfalls basierend auf meiner Vergangenheit. Doch all diese Dinge sind Konstrukte, nicht die Dinge selbst. Und so speichere ich die Information des heutigen Schneiens mit einer Vielzahl von Verknüpfungen zu längst etablierten Konstrukten, die gemeinsam mein Wissen darstellen. Dies ist eine Kodierung. Es wird verschlüsselt gespeichert. Beim Abrufen muss all das entschlüsselt werden, was niemand kann, außer mir selbst.
Konstrukte aber sind nur Konstruktionen, die umgebaut werden können. So hat sich über die Jahrzehnte auch mein Bild vom Schnee verändert. Als Kind habe ich Schnee einfach nur geliebt. Schneemann bauen, Schneeballschlacht, Schlitten- oder Skifahren, das Knirschen unter den Füßen – Schnee war ein einziger großer Spaß. Dass Schnee einen auch zum Frieren bringen kann, sich im Nacken nicht toll anfühlt und einen zum Fallen bringt, das habe ich wohl auch abgespeichert, aber es stand nicht mit negativen Gefühlen in Verbindung. Dass meine Kleidung nass wurde und in die Wäsche musste, war nicht mein Problem, sondern das meiner Mutter. Auch eine mögliche Erkältung ist keine Kindersorge. Und fallen – ist doch auch ein großer Spaß. Heute bin ich selbst für meine Wäsche verantwortlich. Und ich habe inzwischen schon einmal mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus gelegen. Fallen ist heute auch kein Spaß mehr. So hat sich mein gesamtes Konstrukt „Schnee“ emotional deutlich verschoben. So denke ich heute nicht mehr an pure Lebensfreude, wenn ich aus dem Fenster schaue, und ich habe auch kein Bedürfnis, gerade jetzt rauszugehen. Zwar erinnere ich noch die Freude von damals, sie kommt mir heute allerdings sehr seltsam vor. Tatsache ist jedenfalls, dass Schnee heute anders in mir kodiert ist als früher. Das physische Phänomen „Schnee“ aber ist dasselbe geblieben.
Die Sinne habe ich hier schon an einigen Stellen behandelt. So bilden sie einen der großen Grundpfeiler unseres Verstandes. Nicht zu Unrecht, denn die Sinne sind unser direktester Zugang zur Wirklichkeit. Sie sind begrenzt und auch nicht perfekt, aber etwas Besseres haben wir nicht. Sie vermitteln Wissen aus erster Hand. Dieses Wissen ist nicht durch anderer Leute Verstand gefiltert worden, es hat auch nicht den verzerrenden Umweg über die Sprache genommen.
Wenn ein Winterfreund hinaus möchte, um im Garten den ersten Schnee zu einem Schneemann zu verarbeiten, so sollte er vorher aus dem Fenster schauen, wie ich es heute tat. Denn dann weiß er, ob bereits Schnee fällt oder gefallen ist oder nicht. Er könnte stattdessen auch mich fragen, weil er annimmt, dass ich kompetent bin in dieser Fragestellung. Dann würde ich ihm eine Antwort geben, und die müsste er dann glauben. Die Information „Schnee oder nicht Schnee“ hätte er dann allerdings nur aus zweiter Hand. Vielleicht ist er ja zufrieden damit. Viel häufiger aber finden wir eine Haltung wie: „Was ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, das glaube ich auch nicht.“ Wir verlassen uns gern auf unsere eigene Wahrnehmung, der Eine mehr, die Andere weniger. Das ist nicht verwunderlich und muss auch nicht kritisiert werden. Auch der ungläubige Thomas wollte selbst sehen und fühlen – und ist dafür kritisiert worden.
Jesus spricht zu ihm (Thomas): Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Glückselig ⟨sind⟩, die nicht gesehen und ⟨doch⟩ geglaubt haben!
2Kor 5,7; 1Petr 1,8
Unsere Sinne also sind unsere erstrangigen Wissensvermittler. Schade, dass sie uns manchmal an der Nase herumführen. So können wir auf eine optische Täuschung hereinfallen. Wir können etwas übersehen, etwas überhören oder uns verhören (für die anderen Sinne fallen mir keine Redewendungen ein). Vor Gericht ist dies ein Problem, denn was wird anderes abgefragt in einer Zeugenvernehmung als Sinneseindrücke? Nur selten interessiert sich die Gerichtsbarkeit für Meinungen und Ansichten, eher sind es doch die möglichst puren Produkte der eigenen Sinne. „Wann haben Sie das Opfer zum letzten Mal gesehen? – Wann genau haben Sie die Schüsse gehört? – Sind Sie sicher, dass es die Stimme des Angeklagten war?“ Das Gericht versucht, an Wissen aus möglichst erster Hand zu gelangen. Zeugenaussagen haben ein hohes Gewicht vor Gericht.
Zwar habe ich schon angedeutet, dass selbst die Sinne kein absolutes Wissen liefern, dessen ungeachtet aber haben sie in der Regel das Zeug dazu, überzeugend zu sein. „Ich traue meinen Augen nicht“ ist zwar eine bekannte Redensart, doch ist sie eher selten ernst und meist nur als Metapher gemeint. Unsere Sinne sind der Schatz, auf dem unser Wissen beruht. An den eigenen Sinneserfahrungen kommt keine Argumentation vorbei. Und sie sind die erste Grundlage für das, was wir mit unserem Denken bewegen. Und wenn Elon Musk sein SpaceX-Projekt dazu verwenden würde, jedem Erdenmenschen einmal im Leben einen Umflug um die Erde zu ermöglichen, damit er oder sie die Erdkugel mit eigenen Augen begutachten kann, dann gäbe es deutlich weniger Flacherdler :-)
Die eigenen Gedanken wälzen unser sinnliches Wissen hin und her und versuchen, Schlüsse daraus zu ziehen. Denken ist dabei ein zu intellektuell klingender Begriff. Denn dieses Wälzen kann auch über unsere Gefühle geschehen oder anderweitig unterbewusst. Auch Tiere haben diese Fähigkeit, sich weiteres Wissen aus ihren Sinneserfahrungen zu erschließen. Meine Katze etwa, die in meinen jungen Jahren mein Leben bereicherte, ließ sich nicht vor die Tür jagen, wenn es draußen schneite. Sie hatte schon zu oft gespürt, wie sich schneebedingte Nässe anfühlt. Ihr Verstand sagte ihr: „Du weißt, was diese weißen Dinger bedeuten! Das willst du nicht nochmal, also bleib drin!“ Sie trug diese Gedanken – als Ergebnis vergangener Sinnesreize und hervorgerufener Gefühle – in sich, wenn auch nicht mit Worten. Es gehörte zu einem Wissen, das sie sich selbst „erdacht“ hatte.
Bei Menschen kann dieses Wissen und die erforderlichen Gedankengänge durchaus komplexer werden als bei einer Katze. So kann der Mensch sich Gedanken über Gummistiefel, Regenschirme und Windrichtungen machen, auch über den Bau eines Vordaches oder die schirmende Hand Gottes. Den Ergebnissen solcher Überlegungen bringt der Mensch großes Vertrauen entgegen. Das ist klar, denn die eigenen Gedanken repräsentieren ja in gewisser Weise das Selbst. Es ist wie mit Backwaren: Ein Törtchen aus dem eigenen Backofen wird man gerne essen, eines, das man verwaist auf einer Parkbank findet, eher nicht. Schließlich hat man keine Ahnung, was es damit auf sich hat, was damit alles schon geschehen ist. Das Törtchen aus dem Backofen liefert solche Bedenken nicht. Und genau so sind auch die eigenen Gedanken über jeden Zweifel erhaben. Selbst dann, wenn man nur ein begrenztes Wissen hat, in dem diese Gedanken wühlen können, selbst dann, wenn man weiß, dass man nur ein begrenztes Wissen hat. Dies wird deutlich in der Redensart „Kann ich mir nicht vorstellen“. Wenn mir jemand etwas erläutert, das meine Kompetenzen übersteigt, dann wird es mir schwerfallen, ihm zu folgen. Und damit wird es mir schwerfallen, ihm zu glauben oder seine Argumentation zu akzeptieren. Ich habe keine Ahnung, wie er zu seinem Wissen gekommen ist, also ist es mir schnell suspekt – genau wie das Törtchen auf der Parkbank. Meinem eigenen, begrenzten Wissen zu glauben, kann dann unter Umständen der größere Impuls sein, selbst dann, wenn ich genau weiß, dass mein Gegenüber die kompetentere Person ist. So haben wir Menschen auch die Fähigkeit, uns selbst zu betrügen.
Doch manchmal vertrauen wir auch den Gedankengängen anderer Menschen. Dabei machen wir feine Unterschiede. Neben uns selbst vertrauen wir vielleicht Personen, die uns nahestehen, die wir lieben, aus der Familie etwa oder dem Freundeskreis. Bei ihnen haben wir vielleicht die Erfahrung gemacht (mit eigenen Sinnen erfahren), dass sie vertrauenswürdig sind. Außerdem können es Menschen sein, zu denen wir aufschauen, ebenfalls aus der Familie, aber auch aus der Wissenschaft, der Politik oder der Wirtschaft. Besonders Idole zählen dazu, beispielsweise aus der Kunstwelt oder der Musik. Warum sonst war es so bedeutend, dass sich im September 2024 Taylor Swift für Kamala Harris als US-Präsidentin aussprach? War früher die Zeitung eine viel beachtete Vertrauensinstanz, für die immerhin ein ganzes Kollegium von Journalisten und Journalistinnen zusammenarbeitete, so ist es heute jeder einzelne Star auf der Bühne oder bei YouTube oder Instagram. Diese Leute heißen Influencer oder Influencerin, weil sie Einfluss haben, weil viele Menschen ihnen einen Vertrauensvorschuss geben und ihnen blind glauben, was sie sagen.
Das ist gefährlich, denn diese Stars haben Macht, Überzeugungsmacht. Manche nutzen ihre Macht nur dazu, Geld zu verdienen. Sie nehmen Werbeeinnahmen und verbreiten dafür das „Wissen“, dass Produkt XY das beste sei. Andere aber sind nicht (nur) auf Geld aus, sie haben eine Botschaft. Allen gemeinsam ist, dass sie für ihre Zwecke Vertrauen benötigen. Stars und Idole haben dieses Vertrauen per se. Andere müssen erst darum kämpfen. Wie tun sie das?
Wichtig ist hierbei die Zielgruppe. Eine der erfolgversprechendsten Zielgruppen ist die der Unzufriedenen. Unzufrieden sind Menschen, die finanziell oder sozial abgehängt sind, die sich klein vorkommen im gesellschaftlichen Gefüge, die sich übergangen fühlen, die erfahren, dass sie nicht gehört und ihre Belange und Wünsche nicht berücksichtigt werden. Um das Vertrauen dieser großen Menschenmenge zu erhalten, muss man zu ihnen gehören, also abgehängt und ungehört sein, verachtet und missverstanden. Tatsächlich spielen manche Influencer mit den Sorgen der Schwächsten, indem sie behaupten, früher nur ein kleines Rädchen im Räderwerk gewesen zu sein, heute aber erfolgreich und frei. Oder sie stellen sich als verachtete Forscher dar, die vom etablierten Wissenschaftsbetrieb verlacht werden, oder geniale Erfinder, die die Wirtschaftslobby mundtot machen will. Mit dieser Form der Verbrüderung und Solidarität versuchen verschiedenste Akteure, den großen Markt der Hoffnungslosen abzuschöpfen und all die Menschen einzusammeln, die in ihrer (eingebildeten oder tatsächlichen) Not nur jemanden suchen, dem sie vertrauen können. Und wer wäre da besser geeignet als ein YouTube-Underdog, der sein selbst erfundenes Perpetuum Mobile präsentiert und behauptet, mit freier Energie könne man Strom erzeugen und so seine gesamten Stromkosten einsparen, und er selbst würde verfolgt von den Energiekonzernen und wolle sein exklusives Wissen nun mit denen teilen, die ähnlich unterdrückt sind wie er selbst, solange er noch könne.
Ein gemeinsames Schicksal verbindet. Ein gemeinsames Schicksal ist wie eine Familienbande. Und so erzählt es die eine dem anderen und eine Mär erobert die Welt, getragen vom Vertrauen zu „einem von uns“ (und ohne das sonst so große Bedürfnis, es durch eigene Sinne zu verifizieren). Auf diese Weise hat es auch die Flat-Earth-Bewegung geschafft, auf YouTube und schließlich auch außerhalb an Bedeutung zu gewinnen. Sie bietet nun allen, die es wünschen, eine Heimstatt. Heimstatt? Ja, es geht um Heimat, um das Gefühl, unter Gleichgesinnten zu leben, die einen schätzen und achten und die Geborgenheit einer Gruppe bieten, die einem in der „großen“ Gesellschaft nicht zugutekommt. Es geht nicht um die Wahrheit!
Schafft Vertrauen also Wissen? Nein. Nicht, wenn Wissen an der Wahrheit orientiert sein soll. Aber Vertrauen schafft Überzeugungen. Allerdings würde jeder Flacherdler seine Überzeugung sehr wohl Wissen nennen. Dadurch wird deutlich, dass der Begriff „Wissen“ ein sehr subjektiver Begriff ist. Wenn ich behaupte: „Ich weiß, dass die Erde eine Kugel ist“, dann weiß ich es nicht wirklich. Aber ich bin überzeugt davon, dass es der Wahrheit entspricht. Für mich ist es ein Fakt, für mein Gegenüber aber unter Umständen noch lange nicht. Für ihn oder sie ist die flache Erde ein Fakt – was auch die Begriffe „Fakt“ und „Tatsache“ ins rein Subjektive zerrt!
Diese Erkenntnis empfinde ich als sehr enttäuschend (ausführlicher beschäftige ich mich damit im Kapitel Was sind Fakten?). Wissen hatte für mich immer etwas Absolutes an sich, das sich rein an der Wahrheit orientiert. Und jetzt soll es nur die Überzeugung sein, die in jedem Menschen anders gestaltet ist? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler würden hier sicher widersprechen.
Damit wird es nun Zeit, sich einem weiteren großen Begriff zu nähern: der Wissenschaft. Doch was lese ich bei Wikipedia (der großen Wissens- – sorry – Überzeugungsdatenbank)?
Die Frage, was Wissenschaft ist und wie sie sich von anderen Bereichen menschlichen Handelns und menschlicher Errungenschaften unterscheidet, ist seit langem ein Gegenstand der Wissenschaftsphilosophie. Eine genaue und allgemein akzeptierte Definition findet sich in der Literatur nicht.
Wikipedia, Wissenschaft, Begriffsbestimmung
Eigentlich hatte ich gehofft, wenigstens in diesem Begriff ein bisschen mehr Verlässlichkeit zu finden. Wenn Wissen schon so wenig wirkliches Wissen ist, dann sollte doch wenigstens die Wissenschaft nur wirkliches Wissen schaffen. Das hatte ich mir so vorgestellt, weil es meinem Sprachempfinden entspricht und auch zu den großen Ansprüchen zählt, die ich der Wissenschaft zuschreibe. Und nicht nur ich! Sogar das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt:
[Unter wissenschaftliche Tätigkeit fällt alles], was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29. Mai 1973, BVerfGE 35, 79 C II 1. (Absatz 128)
Alles dreht sich um die Wahrheit. Wissenschaft will und soll mehr erreichen, als Überzeugungen zu generieren. Es ist die Suche nach Wahrheit. Dazu muss sie eine wissenschaftliche Vorgehensweise pflegen, eine Methodik. Letztlich aber traue ich mich nur und mit großem Optimismus, das Folgende zu behaupten:
Unter dem Dach der Wissenschaft tun sich Menschen zusammen, denen die Wahrheit am Herzen liegt. Es geht ihnen nicht darum, recht zu behalten, sondern die Natur der Dinge zu erkennen. Dazu nehmen sie in Kauf,
Und da ist es wieder, das Vertrauen: Wissenschaft kann nur mit gegenseitigem Vertrauen funktionieren. Wird es verletzt, entstehen schnell Pseudowissenschaften.
Ja, das klingt sehr idealistisch. Und Wissenschaft ist auch tatsächlich idealistisch. Ich glaube aber, über die Jahrtausende der Wissenschaftsgeschichte hat dieses labile Konstrukt im Großen und Ganzen sehr gut funktioniert. Wo nicht, waren häufig, sicher nicht immer, mächtige Einflüsse von Religion, Politik oder anderen Gesellschafts-Idealen im Spiel. Ein Beispiel ist sicher Galileo Galilei, der der mächtigen katholischen Kirche gegenüberstand, deren Inquisitoren sicher auch Wissenschaftler konsultierten. Josef H. Reichholf, ehem. Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung und Honorarprofessor an der TU München, schildert in diesem Artikel selbstkritisch ein weiteres Beispiel. Der Schlussabschnitt lautet:
Wissenschaft ist nicht unabhängig vom Zeitgeist. Das macht sie angreifbar, befähigt sie aber auch zu rascher Korrektur. Frei von Irrtümern wird sie nie sein. Entscheidend ist die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Bleibt ihr diese von der Gesellschaft zugebilligt, wirkt der Irrtum konstruktiv.
Josef H. Reichholf in Forschung & Lehre, Irrtum ist wissenschaftlich
„Google weiß alles.“ Wer diesen Satz in der Suchmaschine Google eingibt, findet hauptsächlich Seiten zum Thema: „Was weiß Google über mich?“ Dabei geht es um den Datenschutz. Wenn ich aber beurteilen will, wie viel Google generell weiß, so muss ich sagen: eigentlich alles. Und eigentlich nichts. Alles, weil der Google-Konzern so ziemlich jede Bewegung von uns im Internet kennt und darüber hinaus. Und nichts, weil die Google-Suchmaschine (der Ursprung von Googles Erfolg) halt nichts „weiß“. Die Suchmaschine speichert Informationen zu bestimmten Themen, aber nicht die Informationen selbst, sondern nur Hinweise auf bestimmte Internetseiten oder anderen Medien, die von diesen Themen handeln. Google weiß sozusagen, wo man nachlesen muss. Das könnte man natürlich auch als Wissen bezeichnen.
Doch Informationen sind noch kein Wissen! Selbst die Internetseiten, die sich zu bestimmten Themen auslassen, wissen eigentlich nichts. Mit den fast unendlich vielen Infos, die sie vorhalten, können sie selbst nichts anfangen, außer sie uns bei einer Anfrage zu senden. Erst wir Menschen sind es, die diese Infos in Wissen verwandeln können. Das liegt daran, dass wir die Sprache verstehen, die diese Internetseiten-Infos sprechen, anders als die Computer. Sie sind reine Datenhalter, Zettel- und Karteikästen, Aktenschränke, die keine Ahnung haben, was sie da alles speichern. Sie selbst verwenden ihre eigene Sprache, ihren eigenen Code: eine unvorstellbare Menge von zufällig anmutenden Einsen und Nullen, die wiederum wir nicht verstehen. Das Abrufen von Infos aus dem Internet ist also eine Folge von ziemlich viel Kodieren und Um-Kodieren.
Mainstream-Computer verstehen nur Null und Eins. Die kleinste Informationseinheit ist dabei ein Bit, das sich zu einer bestimmten Zeit genau im Null- oder genau im Eins-Zustand befinden kann. Mehrere Bits ergeben einen Code, den Binärcode. Eine bestimmte Menge an Bits enthält so eine bestimmte, definierte Information. Durch sieben Bits etwa können die Buchstaben der lateinischen Schrift kodiert werden sowie die Zahlen 0-9 und einige Sonderzeichen. Definiert ist dies in der ASCII-Tabelle (ASCII = American Standard Code for Information Interchange), die seit den 1960er Jahren existiert und bis heute eine wichtige Grundlage der Informationsverarbeitung ist. Würde sich morgen die ASCII-Tabelle ändern (absurde Vorstellung), ginge gar nichts mehr.
Doch wenn ich von Null oder Eins spreche, so ist auch das schon ein Code. Gemeint ist die logische Null oder Eins, also ein virtuelles Konstrukt in unseren Köpfen, das nur zwei Zustände annehmen kann. Speichern können Computer diesen Code, indem sie Null und Eins physikalisch konkret werden lassen. Ein Transistor etwa kann „an“ oder „aus“ sein, Strom führen oder nicht, was dann eben Eins oder Null bedeutet – je nach (willkürlicher) Definition. Viele Transistoren, die separat gesteuert, also geschrieben und ausgelesen werden können, ergeben einen Speicher, der entsprechend viele Bits in kleinen Gruppen, etwa den Bytes (1 Byte = 8 Bits) speichert. Und wenn man ein paar Milliarden davon zusammen auf einen Chip bannt, dann hat man z.B. einen gängigen 8 GB-Arbeitsspeicher (1 GB = 1 Gigabyte = 1.073.741.824 Byte). In einer gängigen 1-TB-SSD-Festplatte (1 TB = 1 Terabyte = 1.099.511.627.776 Byte) arbeiten viele Hundert Milliarden Transistoren zusammen.
Google kauft LKW-weise Festplatten ein. Im Jahr 2016 (also vor rund einem Jahrzehnt!) kamen allein bei Googles YouTube-Servern täglich 1 PB Daten hinzu (1 PB = 1 Petabyte = 1.000 TB). Heute ist es ein unkommuniziertes Vielfaches davon. Verfilmtes Wissen (oder Unwissen) der Menschheit. Die Cloud- und eMail-Dienste und und und kommen noch hinzu. Über die gesammelten Daten unserer Internetgewohnheiten gibt es keinerlei Größenangaben. Auch diese Datenmenge muss gigantisch sein, dies sind immerhin die eigentlichen Daten von Google, die, mit denen der Konzern sein Geld verdient. Dieses Wissen ist wiederum nur von Google lesbar und bringt seinen Kunden und Besitzern hohen Nutzen.
Was ist mit dem Wissen gängiger künstlicher Intelligenzen? Stellen wir unserem Lieblings-ChatBot eine Frage, präsentiert er Sekunden später eine ausführliche Antwort. Etwa so:
Was ist Wissen?
Wissen kann auf verschiedene Weisen definiert werden, aber im Allgemeinen bezieht es sich auf das, was eine Person kennt und versteht. Es umfasst Fakten, Informationen, Konzepte und Erkenntnisse, die durch Lernen, Erfahrung oder Forschung gewonnen wurden. Wissen ermöglicht es uns, Probleme zu lösen, Entscheidungen zu treffen, Dinge zu verstehen und unser Verhalten anzupassen. […]
Anfrage und Antwort bei ChatGPT
Beeindruckend für mich als einen Menschen, der im vergangenen Jahrtausend geboren wurde. Aber weiß die KI, was sie da sagt? Nein, denn die Maschine formuliert diese Wortfolge anhand des gigantischen Informationspools seiner Trainingsdaten, also ungezählten menschengeschriebenen Texten, die ihm beim Training zugänglich waren. Dabei hat sie aber nicht etwa einfach auswendig gelernt, was Wissen ist oder alle anderen Begriffe, mit denen man sie konfrontieren kann. Sie kennt nicht etwa ihre Bedeutungen, sie weiß auch nicht, wo man nachlesen kann und tut dies mal eben. Für eine künstliche Intelligenz dieses Schlags ist ein Begriff eine Folge von Buchstaben und damit Bytes, ein Code, der einzigartig ist im Pool aller Codes. Zwar gibt es doppeldeutige Begriffe (Teekesselchen wie Bank, Leiter, Ball, Flügel, …), doch das interessiert sie nicht, da ihr die Bedeutungen von Worten völlig egal sind. Eine Bedeutung ist ein Konstrukt, etwas, das sie selbst in ihrer Antwort oben Konzept nennt. Konzepte sind aber nicht Teil ihrer Arbeit. Und trotzdem gibt sie eine korrekte, ausführliche Antwort auf beinahe jede Frage. Also verfügt sie doch über Wissen?
In der Tat. Doch ihr Wissen ist völlig anders, als wir ahnen würden bei der Klugheit ihrer Antworten. Es ist eine profane Wahrscheinlichkeit, über die sie Bescheid weiß. Sie kennt – einfach ausgedrückt – die Wahrscheinlichkeit, mit der (in all den ihr bekannten Texten) ein Wort den bereits voranstehenden Satzelementen folgt, und zwar in Abhängigkeit der Fragestellung. Oben begann sie einfach mit dem Wort „Wissen“, vermutlich nicht zufällig, sondern weil es (in der deutschen Sprache) recht wahrscheinlich ist, auf die gestellte Frage mit dem erfragten Begriff selbst zu beginnen. Das folgende Wort „kann“ hat in ihrem Wissensschatz der Wahrscheinlichkeiten eine große Chance, direkt hinter „Wissen“ zu stehen, so wie „auf“ recht wahrscheinlich hinter „Wissen kann“ erscheint. Bei jedem Schritt wird der bisher gebaute Satz erneut beurteilt, um die Folgewahrscheinlichkeit zu ermitteln.
An dieser Stelle Werbung für ein Kinderspiel: die beliebte Wortkette. Man beginnt mit einem Wort und hängt nach und nach je ein weiteres Wort an. Dieses muss stets mit dem Endbuchstaben des vorherigen beginnen. So soll nach und nach ein sinnvoller Satz entstehen. Es kann auch ein bestimmtes Thema vorgegeben werden.
Bei diesem Spiel hat nur der Endbuchstabe des jeweils letzten Wortes Einfluss auf den Wortpool für das Folgewort. Außerdem ist der Wortschatz der Spielenden (was Wissen ist) entscheidend sowie deren Kenntnis über sinnvollen und nicht sinnvollen Satzbau (was ein Konzept ist).
Dies ist das nur vereinfacht ausgedrückte Prinzip eines einfachen ChatBots. Es mag noch viele andere geben. Das Wissen dieser Programme reicht nicht über langweilige Wort-Wahrscheinlichkeiten hinaus. Fakten, Konzepte und Erkenntnisse über das eigentliche Thema kann ich in diesem Arbeitsprinzip nicht erkennen. Intelligenz schon gar nicht.
Doch gibt es andere KIs, die bereits mit gedanklichen Konzepten oder virtuellen Konstrukten arbeiten. Neben den neueren ChatBots sind dies beispielsweise generative Bilderzeuger wie Dall-E oder Stable Diffusion. Diese verwandeln sprachliche Bildbeschreibungen in Grafiken, also Worte in Pixel. Sie tun das über den Umweg sog. Einbettungsräume. In diesen mathematischen Vektorräumen, die ich hier nicht genauer erläutern möchte, werden Worte mit Bildern in Beziehung gesetzt. Worte mit ähnlichen Bedeutungen (z.B. Hut, Mütze, Kappe, …) liegen in einem dieser mehrdimensionalen Räume nah beieinander; je weniger zwei Begriffe miteinander zu tun haben, desto weiter liegen sie entfernt voneinander. In denselben Einbettungsraum werden auch unzählige Bilder einsortiert. Auch hier liegen verschiedene Abbildungen bedeutungsähnlicher Dinge, etwa von Kopfbedeckungen, nah beieinander, und zwar gleichzeitig in der Nähe ihrer sprachlichen Repräsentanten. Dabei können die Beispielbilder die jeweiligen Gegenstände auf verschiedenste Weise darstellen (von vorne, von hinten, gezeichnet, fotografiert, verschiedene Farben …). Durch die gegenseitige Nähe im Abbildungsraum kann von Worten nun auf Bilder geschlossen werden, die dann zur Generierung eines neuen Bildes herangezogen werden können.
Die beschriebene Methodik funktioniert gut für die speziell programmierten neuronalen Netze, die Standard-Usern heute schon zugänglich sind. Sie stellen aber auch einen ersten Schritt dar, den Computern das „Verstehen“ beizubringen, denn Phänomene wie Worte oder Bilder werden mit einer Bedeutung verbunden. Da an diesen Systemen intensiv geforscht wird, nehme ich an, dass kommende Versionen künstlicher Intelligenzen rasch aus ihrem plumpen Karteikasten-Dasein herauswachsen werden und ihr Handeln dem Verstehen immer näher kommt und ihre Informationsfülle dem Wissen. Damit kommen sie dann wahrer Intelligenz sehr nahe und verfügen über künstliches Wissen, das unserem ebenbürtig ist. Vielleicht geht das schneller, als wir denken, vielleicht dauert es aber auch noch unerwartet lang. Mal sehen …
Bevor ich diesen Text schrieb, hatte ich mir mehr erhofft vom Begriff Wissen. Ich hatte ihm eine absolute Bedeutung zugeschrieben. Doch letztlich scheint mir Wissen nichts anderes zu sein als der derzeitige Zustand meiner selbst, meines Geistes, meiner Neuronen und Synapsen. Es ist das, auf das sich jede meiner Handlungen stützt. Und es gründet in allem, was ich je erlebt habe.
Dennoch halte ich trotzig den strengen Begriff „Wissen“ hoch, der mehr mit der Wahrheit in Verbindung steht als mit Überzeugungen oder gar Meinungen. Das ist nicht leicht in einer Zeit, die manche als postfaktisch bezeichnen. Ich sehe Wissen als einen Wert an sich, der uns im Leben zur Seite steht und uns weiterbringt – materiell wie gesellschaftlich. Wissen in diesem strengen Sinne ist unverzichtbar.
Das Wissen ist keine absolute Größe. Auch die Wissenschaft ist nicht so integer, wie sie oft dargestellt wird. Absolut ist nur die Wahrheit, das Weltgeschehen selbst. Wissenschaft und Wissen trachten gewissenhaft nach der Wahrheit, doch dabei können beide scheitern. Sie sind verletzlich. Sie müssen gehütet werden. Wenn wir ihren Schutz vernachlässigen, geht uns vieles verloren. Nicht nur Wissen.
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