Wozu überhaupt Können?

Historisches Hochrad

Einmal erzählte ich einer Freundin von meiner Beobachtung, dass ich das Kopfrechnen verlernt hatte, seit ich Corona-bedingt bargeldlos an der Supermarktkasse bezahlte. Ich sagte ihr auch, dass ich nun bewusst wieder bar bezahle und seitdem wieder Fortschritte im Rechnen mache (Münzgeld zusammenzählen, Rückgeld ausrechnen und so; sehr niederschwellig also). Sie, die erklärtermaßen nie Bargeld dabei hat, schaute mich verständnislos an und zuckte mit den Schultern: „Und warum sollte ich das können?“

Dies war eine entwaffnende Frage. Spontan hatte ich keine Antwort darauf. Warum sollte man etwas können, das nicht mehr gebraucht wird? Wozu die Mühe, etwas zu trainieren, das man nirgends mehr anwenden muss? Oder kann. Schließlich gibt es viele Dinge, die ich nicht mehr beherrsche, frühere Menschen aber schon: in der Wildnis überleben, Tiere jagen, Heilkräuter kennen, Hochrad fahren, …

Zeit

Inzwischen habe ich eine Antwort auf die Frage meiner Freundin. Jeder Mensch kann im Laufe seines Lebens nur eine begrenzte Anzahl an Fähigkeiten erlernen. Training braucht Zeit, und die ist begrenzt. Somit müssen wir auswählen, was wir lernen wollen und was nicht – da hat sie vollkommen recht. Um in heutigen Gesellschaften leben zu können, sind Computerkenntnisse wichtiger als Jagderfolge, Übung im bargeldlosen Zahlen wichtiger als Kräuterkunde, das Fahrkartenautomat-Bedienen wichtiger als das Hochrad-Fahren. Jedenfalls, solange unsere Gesellschaft funktioniert wie bisher. Gut möglich, dass es mal wieder wichtig werden wird, in der Wildnis zu überleben. Bis dahin aber dürfen wir uns nicht verzetteln.

Richtig ist aber auch: Je intensiver wir lernen, desto leistungsfähiger wird unser Hirn. Und je intensiver wir üben, desto fitter bleibt das Gehirn. Nur wenn wir es fordern, bleibt es gesund. Und je breiter das resultierende Können gefächert ist, desto umfassender können wir dazulernen und desto größer ist das kreative Potenzial. Muss ich erklären, warum eine universale Grundbildung gut für die eigene Leistungsfähigkeit ist? Und das Rechnen, auch das Kopfrechnen, gehört m.E. zur Grundbildung. Es erschließt grundlegende Fähigkeiten im Abschätzen von Mengen, im Erfassen von Zahlenräumen, im logischen Denken, im Einschätzen finanzieller Möglichkeiten. Auf diesen Fähigkeiten bauen andere Fähigkeiten auf. Und nicht zuletzt hilft es mir zu erkennen, wenn ich beim Rückgeld betrogen werde. Oh, okay, zugegeben, das bräuchte ich gar nicht, wenn ich nicht bar bezahlen würde :-)

Krone der Schöpfung?

Wir Menschen sind stolz auf das, was wir können. Wir können mehr als alle anderen Tiere – auch wenn sie bestimmte Inselbegabungen haben, die für uns unerreichbar sind. Logisches Denken, abstraktes Denken, mathematisches Denken, Sprache und Kultur – all dies sind Fähigkeiten, die wir für uns in Anspruch nehmen und in der erreichten Komplexität den Tieren absprechen. Dessen sind wir uns sehr bewusst und überhöhen uns selbst als die Krone der Schöpfung. Das mag arrogant klingen, und das ist es auch. Aber auch wahr. Wir können mehr als unsere Mitwesen. Jedenfalls haben wir das Potenzial, mehr zu lernen als sie. Das zeichnet uns aus!

Schon kleine Kinder sind stolz, wenn sie etwas Neues erlernt haben. Sich anziehen, Schuhe binden, balancieren, auf einem Bein stehen, ein Musikinstrument spielen, bis Hundert zählen. Der Stolz auf diese Leistungen scheint angeboren zu sein. Schon Babies kämpfen so lange mit der Schwerkraft, bis sie den Kopf aufrecht halten oder krabbeln können. Der Mensch hat das angeborene Bedürfnis, etwas zu können, und zumindest im Kindesalter geschieht das Lernen on the fly, also ganz nebenbei.

Später wird das schwieriger. Ein erwachsener Mensch lernt neue Dinge, z.B. eine neue Sprache, mühsamer als Kinder. Und: Damit Können nicht verloren geht, muss es geübt, trainiert oder einfach nur verwendet werden. Die Freude am Können aber bleibt auch den Erwachsenen. Und es kann deprimierend sein, Fähigkeiten im Alter zu verlieren. Der Mensch hängt an seinem Können. Nicht zuletzt, weil der Selbstanspruch auf die Krone der Schöpfung sonst gefährdet ist.

Denken

Ich denke, also bin ich.

René Descartes

Körperlich sind wir Menschen nicht so gut ausgestattet. Wir sind wahrlich Mängelwesen. Dass wir dennoch überleben konnten ohne Krallen, Reißzähne, und ohne schnelle Sprinter zu sein, haben wir einzig und allein unserem Intellekt zu verdanken. Wir können denken, abstrakt und logisch, wir können verstehen und altes Wissen auf neue Situationen übertragen. Und wir können es uns gegenseitig mitteilen. Es gibt sogar große Denker, die das Denken als die Grundlage ihrer selbst bezeichnet haben.

Der Denker

Können hat nicht unbedingt etwas mit Denken zu tun. Aber einem körperlichen Mängelwesen hilft das Denken ganz entscheidend beim Überleben. Es verschafft einen Vorsprung gegenüber denkschwächeren Wesen oder gleicht Nachteile aus (z.B. durch die Erfindung von Waffen). Es befähigt zu komplexen Gesellschaftsformen, die weitere Vorteile bieten. Und es erschafft das Verstehen und nicht zuletzt einen unendlich großen Raum für Kreativität und Fantasie. Diese ermöglichen weitere Fähigkeiten – z.B. die Entwicklung künstlich denkender Maschinen. Na gut, so weit ist es noch nicht. Dass KI bereits denkt, würde ich nicht behaupten. Verstehen, Kreativität und Fantasie fehlen noch. Doch Charles Darwin war der Ansicht, dass das Denken der Menschen sich nicht prinzipiell von dem der Tiere unterscheidet, nur graduell. Dr. Bernd Rosslenbroich vom Institut für Evolutionsbiologie der Universität Witten-Herdecke meint dazu:

Es gilt Darwins gradueller Unterschied, der Unterschied ist graduell, […] aber das wird in einem solchen Umfang ausgebildet, dass wir eben eine prinzipiell andere Möglichkeit an Flexibilität bekommen, wenn man einfach mal die Hände als Beispiel nimmt. Was ein Schimpanse beim Termitenpulen macht, ist schon beeindruckend, aber was dann ein Pianist tut, ist eben doch eine andere Qualität.

Interview Deutschlandfunk 2015

Dasselbe behaupte ich für das Verhältnis Mensch – KI. Und das bedeutet, dass die KI unsere Art des Denkens erlernen wird. Und das bedeutet, dass sie uns das Denken abnehmen kann. Und wird. Denn Menschen sind – René Descartes war eine Ausnahme – denkfaul!

... für’s Leben lernen wir

Denkfaul hin, denkfaul her – Es bleibt die Frage: Warum sollte ich etwas können wollen, das ich im Alltag nicht brauche. Diese Frage stellen wohl auch alle Schülerinnen und Schüler, die gegen ihre Neigung eine Kurvendiskussion durchführen müssen. Oder eine Gedichtinterpretation. Die Antwort ist:

Es gibt nichts, was du lernen könntest,
das du im Alltag nicht brauchst.

„Non scholae sed vitae discimus (Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir)“, so lautet der berühmte Spruch, der – huch! – von seinem Urheber einst genau andersherum formuliert wurde: „Non vitae sed scholae discimus („Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“). Spannend! Der junge Seneca beschwerte sich in einem Brief darüber, dass in den römischen philosophischen Schulen seiner Zeit unnützes Wissen vermittelt wurde.

Ich bin kein Geschichts-Experte. Keine Ahnung, was Seneca damals so getriggert hat. Sein Vorwurf aber wird auch heute immer wieder geäußert. „Wozu diese blöden Kurvendiskussionen? Die brauche ich nie wieder.“ Tja, das mag stimmen, aber sie machen dennoch etwas mit dem Gehirn. Positives. Sie schulen selbst das nicht nerdige Gehirn und schaffen gewisse Grundkenntnisse über Abläufe in Natur und Technik. „Warum so ein uraltes, verstaubtes Gedicht interpretieren?“ Das habe ich mich als Schüler immer gefragt, wenn ich mal wieder eine Fünf in Deutsch eingeheimst hatte. Heute weiß ich: Um wenigstens eine grobe Vorstellung sprachlicher Ausdrucksformen abseits des Alltäglichen zu erhalten und einen Einblick in frühere Zeiten. Sprache und Geschichte bilden.

Hä? Was soll das denn das bedeuten? Was ist denn das für eine Spießer-Aussage? Eine voller Wahrheit. Ich wäre froh, wenn mir das damals schon klar gewesen wäre. Bildung ist gerade in unserer modernen Zeit Voraussetzung für berufliche Chancen. Darüber müssen wir nicht diskutieren. Die Frage ist nur: Ist es sinnvoll, sich an Dingen abzuarbeiten, die man später nicht anwenden kann?

Ich behaupte: ja. Ganz klar. Ich bin überzeugt, dass es fast egal ist, was man in der Schule lernt. Die Hauptsache ist, dass das junge Gehirn möglichst breit gefordert wird. Lesen, Schreiben und Rechnen sind dabei sicher drei grundlegende Kompetenzen, die sehr breit fordern: Sprachverständnis, Motorik, ein Gefühl für Mengen. Darauf kann weiter aufgebaut werden.

Ein Beispiel aus dem Erwachsenenleben: Ich selbst habe Elektrotechnik studiert. Das war hart und eine große Herausforderung über eine relativ lange Zeit. Dabei habe ich z.B. die Maxwellschen Gleichungen kennengelernt, auch anwenden gelernt. Sie beschreiben elektromagnetische Felder und Strahlen wie z.B. das Licht, und die Arbeit mit ihnen ist alles andere als trivial. Nach dem Studium habe ich nie als E-Techniker gearbeitet. Stattdessen wurde ich erst Programmierer, dann Tontechniker und Buchautor. War meine Maxwellsche Zeit verlorene Zeit? Das ganze Studium vielleicht? Als Programmierer muss man wirklich nicht E-Technik studieren, als Buchautor erst recht nicht. Nein, es war eine wertvolle Zeit, denn das Studium, auch das Zähneausbeißen an Maxwells Gleichungen, hat mich viele Dinge fürs Leben gelehrt. Ich habe gelernt, wie man Ziele erreicht. Ich habe strukturiertes Arbeiten gelernt, kausales Denken, mich anzustrengen, mich tief in etwas einzuarbeiten, mich selbst zu kümmern, Unbekanntes zu lernen, durchzuhalten, wenn es mal nicht so gut läuft, und und und. Dass ich anschließend Elektronik konnte, weil ich dieses Fachgebiet vertieft hatte, spielte keinerlei Rolle für mein Berufsleben. Auch die Maxwellschen Gleichungen kenne ich heute nur noch marginal, weil ich sie nie wieder verwendet habe. Aber all das hat mich gebildet und fit gemacht für meine Berufe. Selbst für das Bücherschreiben, denn ein Buch zu schreiben bedeutet, sich einzuarbeiten und durchzuhalten, und kann schon mal so lange dauern wie ein E-Technik-Studium :-)

Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir
Niederems-Schule, Foto: J.-H. Janßen

Ich wage es, Seneca zu widersprechen. Ich schlage mich auf die Seite derer, die ihm seine Aussage im Munde herumgedreht haben. Ich bin der Meinung, dass wir in der Schule fürs Leben lernen. Wenn es gut läuft.

Denn dass in unserem modernen Schulsystem alles bestens läuft, will ich damit nicht gesagt haben! Doch ja, ich bleibe dabei: Es ist fast egal, was man in der Schule lernt, solange ein breiter Fächer an Fähigkeiten gefordert wird. Nicht egal ist sicherlich das Wie. Schülerinnen und Schüler sollten motiviert werden, etwas lernen zu wollen. Oder nein: Sie sollten motiviert werden, etwas zu tun, wobei sie etwas lernen, ohne es zu bemerken. Ganz so, wie sie es als kleine Kinder tun, wenn sie draußen herumtoben. Eine gewisse Lebensnähe der schulischen Lehrinhalte kann dabei sehr hilfreich sein. Dennoch sollten sie auch lebensferne Punkte behandeln, um den Horizont zu erweitern. Ein Freund (ein Schulleiter) drückte es neulich sinngemäß so aus:

„Wie alle Menschen haben Schülerinnen und Schüler eine Komfortzone. Aufgabe der Schule ist es, sie immer wieder an den Rand dieser Zone zu bringen und dann und wann ein Stückchen darüber hinaus. Aber nicht dauerhaft, so wie matheschwache Kinder in unserem Schulsystem schnell permanent überfordert sind und in ihrer Freizeit in Nachhilfeprogramme gedrängt werden (was die Freude an Mathe eher nicht erhöht). Eigentlich braucht jede Person ihr ganz eigenes Pensum.“

Ein sehr passender Gedanke, wie ich finde. Doch über gute und nicht so gute Schulpädagogik werde ich mich an dieser Stelle nicht weiter auslassen, da dieses Thema eine eigene Website erfordert :-)

Zeit, die 2te

Nach all den vielen Worten steht noch immer der oben genannte Faktor „Zeit“ im Raum. Oft wird behauptet:

„In der Zeit, in der ich das Kopfrechnen nicht üben muss, kann ich neue, viel wichtigere Dinge lernen, die uns weiter bringen als bisher.“

Abakus

Dem widerspreche ich vehement, solange es sich bei den fallengelassenen Übungen um Grundlegendes wie das Kopfrechnen handelt. Denn wenn ich das nicht kann, fehlt mir zwar nicht mehr die Zeit, aber die Fähigkeit, Dinge zu lernen, die uns weiter bringen als bisher.

Mangelndes Können in diesem einen Punkt, dem Kopfrechnen, mag allein vielleicht noch keine Katastrophe sein, doch ist meine Beobachtung eine allgemeine Tendenz, dass weite Teile grundlegender Fähigkeiten nicht mehr gelernt werden. Und damit muss ich jetzt doch noch einmal zum Thema Schule zurück: Neben dem Kopfrechnen steht das Schreiben mit der Hand zur Disposition, ebenso Religion und Sozialwissenschaften. Philosophie, Musik und Sport sind eher hinten im Lehrplan angesiedelt – zugunsten aktueller anmutender Themen wie Wirtschaft oder Digitales. Für mich ist dies ein Ausverkauf menschlicher und gesellschaftlich relevanter Fähigkeiten. In dieser Gesamtheit behält es künftigen Generationen weite Kompetenzräume vor und erzeugt einseitig gebildete Fachidioten, die nicht einmal ihr Rückgeld ausrechnen könnten. Wenn sie müssten.

Persönliches Fazit

„Und warum sollte ich das können?“, wurde ich damals gefragt. Dieser Satz hallt nach in mir. Er wundert und entsetzt mich gleichermaßen. Heute würde ich darauf antworten:

Warum sollte ich das können? Weil ich es können will. Weil ich es können kann. Weil es menschlich ist, zu können. Weil ich bin, wenn ich denke. Und weil es überhaupt erst eine Grundlage schafft für ein Verständnis all der viel zu komplizierten Dinge, die heute unsere Gesellschaft bestimmen.

Technologie im Allgemeinen und künstliche Intelligenz im Speziellen hindern Menschen an der Ausbildung und am Erhalt grundlegender Kompetenzen. Dass sie auch eine Bereicherung für den Lern- und Arbeitsalltag sein können, kann ich akzeptieren. Was ich aber in der Praxis beobachte, sind die negativen Tendenzen: Das Schonen des menschlichen Gehirns und des ganzen Körpers durch Technik und KI sowie den schleichenden Abbau menschlicher Fähigkeiten.

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