Entscheidungen zu treffen ist schwer. Jede Entscheidung stellt die Weichen für die Zukunft. Manche sind wichtiger als andere; einige haben langfristige Folgen, andere sind schnell vergessen – und doch formen sie uns. Sie bestimmen den Verlauf der kommenden Sekunden und/oder unseres gesamten Lebensweges. Sie machen uns zu dem, das wir einst sein werden. Wir treffen unzählige Entscheidungen am Tag. Künstliche Intelligenz nimmt sie uns zunehmend ab.
KI wurde geschaffen, um menschliche Grenzen zu überschreiten. Aber auch, um uns zu entlasten. Zunehmend greift sie in unser Arbeitsleben ein, ebenso ins Private. Sie nimmt uns Mühen ab, und zwar auch die Mühen der Entscheidungen. Schon vor dem KI-Boom hat sie das getan, wir haben es nur nicht bemerkt.
Wer auf Social Media unterwegs ist, sollte ihn kennen: den Algorithmus. Dies ist ein verklärendes Wort für die Auswertung all unserer Social-Media-Daten, die dafür sorgt, dass wir nur für uns interessante Beiträge zu sehen bekommen. Wer Beiträge von linksgrünversifften Umweltschützern liest und liked, wird auch mehr davon aufgetischt bekommen, rechte Hetze dagegen weniger. Und umgekehrt. Social Media lebt von Interaktionen, von Likes, von Empfehlungen und von der Neuigkeitssucht der Teilnehmenden. Daher ist es schlau, eben diesen nur das zu präsentieren, was sie cool finden und weiterempfehlen werden. Diese Auswahl trifft der ominöse Algorithmus. Und der war auch vor KI schon irgendwie KI.
Grundlage für seine Entscheidungen (aha!) sind unsere eigenen vergangenen Entscheidungen. Beiträge, an denen wir Interesse gezeigt haben (durch Anklicken, hohe Lesedauer, Likes, Teilen, Kommentieren, …), sind für den Algorithmus positive Beispiele. Die Flut aller neuen Posts wird er dann nach Ähnlichkeiten scannen und uns nur diejenigen vorlegen, mit denen wir hochwahrscheinlich interagieren werden.
„Algorithmen entscheiden automatisiert, was Du im Internet angezeigt bekommst und was nicht.“
Wie Algorithmen Deine Social Media-Nutzung beeinflussen, Beitrag auf webcare+
In der Anfangszeit bestand die Entscheidungsarbeit sicher nur aus dem Zählen bestimmter Reizworte. Es war tatsächlich ein dummer Algorithmus, eine übersichtliche Handlungsvorschrift für den Server, in dem die Vorausschau und Intelligenz seiner Erfinderinnen und Erfinder steckte. Heute agieren längst die selbstlernenden KIs. Auch sie sind irgendwie dumme Algorithmen, doch ihre Entscheidungsgrundlagen sind versteckt in den Unmengen an Daten – den Trainingsdaten – über unser bisheriges Verhalten. Vom Menschen bewusst festgelegt werden noch die Ziele der zukünftigen, KI-automatisierten Entscheidungen. Getroffen werden sie dann aber völlig autonom und intransparent, nicht nur nach außen. Auch die verantwortlichen KI-Fachleute werden sie im Einzelfall kaum noch nachvollziehen können.
Das Ergebnis kennen wir. Wir leben längst in digitalen Blasen, da uns aus der Fülle des Internets nur erreicht, was wir schon kennen. Die Algorithmen der Suchmaschinen und von Social Media sorgen für einseitige Information. In einer Zeit, in der die redaktionell geführte Medienlandschaft zugrunde geht, betrifft dies leider ganz maßgeblich die Wissens- und Meinungsbildung in allen Bereichen: Politik, Soziales, Bildung, …
Das Internet, das ja gerade die ganze Informationsfülle bietet, wird durch die künstliche Intelligenz für jede Nutzerin und jeden Nutzer „personalisiert“ und nach „Relevanz“ gefiltert. Personalisierung und Relevanz – diese beiden Worte werden immer wieder angeführt, wenn die Arbeitsweise der Algorithmen gerechtfertigt werden soll. Beide sind aber Euphemismen, die das drastischere Wort Einschränkung verdecken sollen.
Ganz klar: Die Fülle des Internets muss eingeschränkt werden. Niemand kann oder will das gesamte WWW durcharbeiten. Dieses Filtern aber übernehmen wir nicht selbst. Eine künstliche Intelligenz tut das für uns. Und auch das ist ein Euphemismus, denn letztlich sind es die Social-Media-Betreiber, die allein wirtschaftliche Interessen verfolgen. Sie sind es, die die Fülle des Internets einschränken auf die Beiträge, die für sie(!) beim jeweiligen User von Vorteil sind.
Nicht der breite Diskurs, nicht die umfassende Information, nicht die ganzheitliche Bildung stehen im Fokus, sondern allein die Interaktion, denn Interaktion bekundet Interesse. Leben in der Blase, Einschränkung auf wenige Lebensaspekte, Unverständnis für gegenteilige Meinungen, Verhärtung der Weltbilder – all dies ist es, was dieser KI-Entscheidungsservice bewirkt. Schuld ist nicht die KI, sondern die ihr zugedachten Kriterien der Tec-Milliardäre.
Früher war das prinzipiell nicht anders. Vor Social Media waren es Redaktionen, die mittels natürlicher Intelligenz ihr Publikum mit vorselektierten Informationen bei der Stange hielten. Nicht jede Tageszeitung ist unabhängig, nicht jeder Fernsehsender überparteilich. Man kann es an den Radiostationen erkennen: Kein Sender sendet alle möglichen Musikstile. Sie alle haben sich auf einen Geschmack spezialisiert – sonst würden sie nicht gehört. Musik ist eine Sache, Gesellschaftliches und Politisches eine andere: Auch damals hörte und las man gern, was einen bestätigte.
Was ist dann der Unterschied zwischen damals und heute? Kein prinzipieller, glaube ich, eher ein quantitativer. Vielleicht sind es drei Aspekte:
Insbesondere der letzte Punkt zeigt, wie schädlich es sein kann, privateste Entscheidungen aus der Hand zu geben. Denn dann werden diese Entscheidungen eben nach fremden Kriterien gefällt, die man a) nicht kennt, b) womöglich nicht befürworten würde und c) nicht beeinflussen kann. Doch offensichtlich lassen wir das zu ohne jede Not (!), obwohl sie maßgeblich bestimmen, wer wir sind und sein werden. Und auch für unsere Kinder lassen wir das zu, obwohl gerade sie noch außerordentlich große Lebensweichen vor sich haben und sehr beeinflussbar sind.
Jeder Moment unseres Daseins bestimmt mit, wie unser Leben weiter verläuft. Viele Faktoren entziehen sich ganz oder teilweise unserem Einfluss. Einzig unsere eigenen Entscheidungen hätten wir prinzipiell selbst in der Hand. Hätten wir?
Bis zu 100.000 Entscheidungen treffen wir täglich – bewusst und unbewusst.
Gute Entscheidungen treffen – Kopf kontra Bauch, Dr. Maren Kaiser
Im Kapitel Was ist Bewusstsein? habe ich schon über den freien Willen geschrieben. Dort habe ich Freud zitiert, der nicht so viel davon hält und uns Menschen eher als vom Es gesteuert sieht. Danach sind unsere Entscheidungen das Ergebnis unseres hochkomplexen und unbekannten Unterbewusstseins.
Dem gegenüber stehen allerdings unsere rationalen Entscheidungsfähigkeiten. Nach Benjamin Franklins Moralischer Algebra können wir in komplexen Fragestellungen Pro-und-Kontra-Listen erstellen – einige Tage lang, weil nicht immer alle Argumente zur gleichen Zeit präsent sind. Und dann streichen wir gleichgewichtete Punkte auf beiden Seiten gegeneinander weg. Zurück bleiben wenige Argumente, die den Weg klar vorgeben. Wer dies beherzigt, wird das Gefühl haben, als sei die resultierende Entscheidung auf freier Basis entstanden; als sei der Wille frei.
Doch wer kennt es nicht: Da hat man sich mühsam eine rationale Entscheidung abgerungen, und kaum ist das geschehen, meldet sich das Bauchgefühl und sagt: „Find ich doof.“ Das Bauchgefühl ist eine dumpfe Empfindung, tatsächlich oft in der Magengegend lokalisierbar, eine Art Emotion, die uns ereilt. Sie macht uns gute oder schlechte Laune. Den Grund dafür, warum gut oder warum schlecht, den kennen wir nicht. Das Bauchgefühl speist sich aus den Untiefen unseres Unbewussten und sticht dann und wann merklich hervor – bei anstehenden oder bereits getroffenen Entscheidungen. Hirnphysiologische Forschungsergebnisse legen nahe, dass Freud recht hat und wir Entscheidungen bereits getroffen haben, bevor sie uns im rationalen Verstand bewusst werden.
„Bereits sieben Sekunden vor der bewussten Entscheidung konnten die Wissenschaftler aus der Aktivität des frontopolaren Kortex an der Stirnseite des Gehirns vorhersagen, welche Hand der Proband betätigen wird.“
Unbewusste Entscheidungen im Gehirn, Spektrum – Die Woche, 15.04.2008
Aber mal abseits der Wissenschaft: Wer bereit ist, das Dogma des freien Willens einmal kurz zu vergessen, wird viele Beispiele finden, aus denen klar wird, dass unsere Entscheidungen maßgeblich von vielfältigen Bauchgefühlen beeinflusst sind:
All diese unbewusst ablaufenden Entscheidungen können durch bewusste, rationale Argumente ausgehebelt werden. Umgekehrt ist es aber ebenso! Wer hat sich nicht schon einmal mit einem verzweifelten „aber trotzdem“ gegen alle Vernunft entschieden? Und bei welchen der oben zitierten 100.000 Entscheidungen am Tag konsultieren wir überhaupt die Vernunft? Untermauern wir nicht viele unserer Bauchentscheidungen nachträglich mit Argumenten, vielleicht sogar Scheinargumenten? Vielfach – und ich glaube zum allergrößten Teil – entscheiden wir uns unbewusst durchs Leben. Und das ist gut so. Das Unterbewusste ist viel schneller als das Bewusste und es verfügt über einen viel größeren Wissensspeicher, als ihn das Bewusste jemals verarbeiten könnte. Das Unbewusste kann sinnvolle Ergebnisse liefern aufgrund dieser Daten. Nur den konkreten Grund für ein resultierendes Bauchgefühl können wir nicht mehr nennen. Denn es gibt nicht den einen Grund, lediglich eine Art Fazit aus vielen zurückliegenden Erfahrungen zusammengefasst. Wie soll das aussehen?
An diesem Punkt sehe ich eine große Ähnlichkeit zwischen unserem Bauchgefühl und einem künstlichen neuronalen Netzwerk, wie es im Bereich der KI heute üblich ist. Ein solches Netz besteht aus Neuronen in einer bestimmten Anordnung und Verschaltung. Es hat eine Eingabeschicht und eine Ausgabeschicht. Die Eingabeschicht erfasst die Eingabedaten, die Ausgabeschicht liefert ein Ergebnis. Dazwischen liegen beliebig viele Zwischenschichten, die zu jedem Eingabedaten-Set ein Ergebnis formen. Ein solches Netzwerk muss trainiert werden, d.h für jedes Neuron müssen bestimmte Parameter festgelegt werden (da all das in Computern realisiert ist, sind dies einfach konkrete Zahlenwerte). Dies geschieht anhand umfangreicher Trainingsdaten, die der Eingabeschicht zugeführt werden, wonach die Parameter (über hochkomplexe mathematische Methoden) jeweils so angepasst werden, dass das Ergebnis an der Ausgabeschicht optimiert wird. Ist das Netzwerk gut trainiert, liefert ein neuartiges Eingabe-Set automatisch ein sinnvolles Ergebnis am Ausgang. Kann man das Zustandekommen des Ergebnisses noch nachvollziehen? Nein. Bei vielen tausend Neuronen eines nur einfachen neuronalen Netzwerks kann man nicht mehr sagen, aufgrund welcher Trainingsdaten nun genau dieses Ergebnis erzeugt wird. Es ist – wie oben genannt – eine Art Fazit aus vielen zurückliegenden Erfahrungen. Oder etwas technischer: Es ist das Ergebnis des Verrechnens vieler Tausend abstrakter neuronaler Parameter.
Was macht das menschliche Unterbewusstsein anders als so ein künstliches neuronales Netzwerk? Ich kann keinen Unterschied erkennen. Beide wurden trainiert mit einer Unzahl Ereignisse. Beide reagieren sinnvoll auf neue Settings aufgrund aller zurückliegenden Erfahrungen. Bei beiden ist das Zustandekommen eines Ergebnisses von außen nicht zu durchschauen. Selbst der interne Aufbau mit vernetzten Neuronen ist ähnlich. Unterschiede gibt es vielleicht in der Art der Eingabe- und Ausgabesignale, der Bestimmung der Parameter beim Training und in der Anzahl und dem Vernetzungsgrad der Neuronen.
Ich finde es schon erstaunlich zu erkennen, dass unser Bauchgefühl, also die Basis unserer Lebensentscheidungen, ähnlich zu funktionieren scheint wie die künstliche Intelligenz, mit der wir gerade die Welt bevölkern. Natürlich ist beides nicht dasselbe, und natürlich ist beides in der Realität viel komplizierter, doch prinzipiell arbeiten sie auf vergleichbare Weise. Vielleicht hilft uns diese Erkenntnis, unser Bauchgefühl wieder etwas höher zu achten, auch wenn wir es nicht verstehen. Künstliche Intelligenz verstehen wir ja auch nicht, überhöhen sie aber geradezu und vertrauen ihr die wichtigsten Entscheidungen an. Und wer offen ist für sein Bauchgefühl, kann es dazu nutzen, abseits unserer hochgelobten Rationalität gute Entscheidungen zu treffen. Diese Fähigkeit nennt sich auch Intuition.
„Albert Einstein called the intuitive or metaphoric mind a sacred gift. He added that the rational mind was a faithful servant. It is paradoxical that in the context of modern life we have begun to worship the servant and defile the divine.“
„Albert Einstein nannte den intuitiven oder metaphorischen Verstand ein heiliges Geschenk. Er fügte hinzu, dass der rationale Verstand ein treuer Diener sei. Es ist paradox, dass wir im Kontext des modernen Lebens begonnen haben, den Diener zu ehren und das Göttliche zu entweihen.“
The Metaphoric Mind: A Celebration of Creative Consciousness”, Bob Samples, 1976,
zitiert nach Quote Investigator®
Nicht jeder Mensch hat guten Zugang zur eigenen Intuition. So gibt es die rationaleren und die intuitiveren Charaktere. Sicher gibt es auch rationalere und intuitivere Gesellschaften. Der reiche, kapitalistische Westen repräsentiert wohl die rationale Lebensart. Jedenfalls scheinen wir erst zufrieden, wenn wir eine wichtige Entscheidung rational untermauert haben.
Auch die Wissenschaft ist ein rationales System. In der Mathematik geht nichts ohne Beweis. Und dennoch behauptet Bob Samples von dem berühmten Physiker und Mathematiker Albert Einstein, er sei ein großer Freund der Intuition gewesen (s. Zitat).
Intuition könnte man beschreiben als die Fähigkeit, gute Entscheidungen aufgrund des Bauchgefühls zu treffen. Dies scheint aber in der beweislastigen Wissenschaft nicht angebracht zu sein. Doch das täuscht. Denn neben dem Beweis gibt es in der Wissenschaft – auch in der Mathematik – die Theorie. Eine Theorie ist die Formulierung einer vermuteten Wirklichkeit. Es ist eine Idee, ein Versuch, einen Forschungsschritt vorwärts zu machen. Die eigentliche Arbeit ist es dann, diese Theorie zu stützen oder zu schwächen, sie vielleicht irgendwann zu beweisen oder zu widerlegen.
Die beste Richtung für Vorwärtsschritte offenbart sich in der Wissenschaft nur selten automatisch. Selbst Theorien müssen erarbeitet werden. Dazu müssen die Beteiligten in der Lage sein, neue Wege zu wagen, Ideen zu finden, kreativ zu sein. An diesem Prozess ist maßgeblich auch die Intuition beteiligt, ein Gefühl dafür, wie die Wahrheit aussehen könnte, in welcher Richtung ein Erfolg (eine bald bewiesene Theorie) wahrscheinlicher ist. Einstein mag das in besonderem Maße Art getan haben: Vielleicht hat ihn seine Intuition dazu verleitet, absurde Gedanken über Zeitdilatation oder Längenkontraktion konsequent, mutig und für seine Karriere risikoreich zu Ende zu denken.
Jetzt ist Einsteins Relativitätstheorie noch immer eine Theorie. Doch hat sie längst ihren festen Platz im Wissenschaftsbetrieb. Ein Heer von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern arbeitet an ihrer Untermauerung, manche auch an ihrer Entkräftung. Es bleibt aber meine Vermutung, dass Einstein sich nicht nur einmal von seiner Intuition hat leiten lassen, wenn er über seine weitere Denkrichtung entscheiden musste.
Doch noch etwas sehen wir an diesem Ausflug in die Wissenschaft: Es gibt die Intuition, und es gibt die Rationalität. Erst beides zusammen mündet in Sicherheit. Die Intuition liefert nur Wahrscheinlichkeiten wie jedes künstliche neuronale Netzwerk auch; eine Sicherheit liefert sie nicht. Rationalität kann diese Sicherheit leisten, doch findet sie allein nicht den Weg dorthin. Intuition und Rationalität sind ein Dreamteam.
Müssen wir eine Entscheidung treffen, liefert uns die Intuition sehr schnell eine erste Empfehlung in Form des Bauchgefühls. Erst danach können wir rational darüber urteilen. Beides ist wichtig, beides hat Stärken und Schwächen.
An dieser Stelle möchte ich darüber nicht noch mehr schreiben. Viel lieber verweise ich auf ein spannendes Interview mit der Autorin und Psychologin Maja Storch. Sie betont das wichtige Nebeneinander von Intuition und Rationalität. Im Stern-Artikel Das Geheimnis kluger Entscheidungen sagt sie Dinge wie:
„Ich empfehle, sich einen Moment Zeit zu nehmen und Bauch und Kopf zu befragen, um zu einer stimmigen Antwort zu kommen. Der Kopf sollte auf jeden Fall mitreden. Ich halte nichts von Esoteriksprüchen wie "Folge deinem Herzen" oder "Folge deinem Bauch, denn er hat immer recht." Das ist Blödsinn.“
Aber auch:
„Viele Menschen in unserer Kultur […] beißen die Zähne zusammen, reißen sich am Riemen, ziehen etwas durch, obwohl ihr Bauch SOS funkt. […] Wenn Sie über einen langen Zeitraum Ihre Bauchsignale unterdrücken, entsteht Stress.“
Oben habe ich nur Social Media als KI-gesteuerten Entscheidungsmoloch genannt. Es gibt noch viele andere Bereiche, in denen künstliche Intelligenz gerade das Steuer in die Hand nimmt. An dieser Stelle nur ein paar Beispiele, über die es nachzudenken und zu diskutieren lohnt:
Es gibt KI-Anwendungen, die ich als nützlich für die Menschheit ansehe. Den medizinischen Punkt in der voranstehenden Liste etwa, obwohl man sich auch darüber trefflich streiten kann. Es gibt aber auch Momente, da machen wir es uns zu leicht oder übersehen in unserer begeisterten Verklärung wichtige Argumente – den übel hohen Stromverbrauch künstlicher Intelligenz etwa. Neben der Tatsache, dass wir selbst das Entscheiden verlernen werden, gibt es weitere Gefahren.
Beispielsweise: Künstliche Intelligenz entscheidet aufgrund ihrer Trainingsdaten. Diese stammen von Menschen. Menschen wiederum haben a) Vorurteile und b) eine gewisse Faulheit, genau nachzudenken, und damit sind sie schnell bereit, die Entscheidungen anderer zu übernehmen – ungeachtet der unterschiedlichen Situationen oder Zusammenhänge. So entsteht Konformität, die sich letztlich in der KI wiederfindet und durch sie potenziert. Es ist, wie bei Social Media klar erkennbar: Was Menschen mögen, liken sie, was geliked wird, wird die KI anderen Menschen präsentieren, die dann ihrerseits die Chance haben, es zu liken. Was also einmal für gut befunden wurde, verbreitet sich exponentiell, was einmal durchgefallen ist, verschwindet, denn niemand hat überhaupt noch die Chance, es zu liken, da es ja niemand mehr sieht. Das ist das Gegenteil von Ausgeglichenheit und Vielfalt.
Jeder kleine Bereich, in dem wir künstlicher Intelligenz die Entscheidung überlassen, wird Einseitigkeit und Konformität fördern. Gute, dem Problem angemessene Entscheidungen aber sehen anders aus:
aus: The hidden risk of letting AI decide – losing the skills to choose for ourselves, Prof. Joe Árvai
Diese drei Punkte, diese drei Schritte zu einer guten Entscheidung, stammen von Prof. Joe Árvai, einem Psychologie-Professor aus den USA, der u.a. den verlinkten Blogbeitrag verfasst hat (englisch). Darin macht er auf die Gefahren aufmerksam, die künstliche Intelligenz auf unsere eigene Entscheidungsfähigkeit hat. Kurze Zusammenfassungen finden sich hier und hier auf deutsch. (Funfact: Seinem Blogartikel voran steht ein Szenenfoto aus WALL-E, dem wunderbaren Film, den auch ich auf diesen Seiten angeführt habe.)
Für mich ist der freie Wille eine trotzige Illusion. Ich bin mir bewusst, wie viel Unbewusstes an jeder meiner Entscheidungen zerrt. Das kann ich nicht Freiheit nennen. Allerdings bin ich auch in der Lage, dieses Unbewusste in Grenzen zu ignorieren und zu versuchen, rein sachlich zu entscheiden. Wirklich frei ist es nie, aber auch nicht völlig ausgeliefert. Diese Zweiteilung macht uns Menschen aus, sie ist gut für uns und durchaus erfolgreich.
Den Einfluss meines eigenen Unbewussten kann ich gut akzeptieren. Nicht glücklich bin ich mit der Bereitschaft der modernen Menschen, ganze Entscheidungskomplexe völlig aus der Hand zu geben an fremde Menschen, die uns mittels künstlicher Intelligenz nach ihren eigenen Vorlieben zu steuern versuchen. Konkret bedeutet das beispielsweise:
Für mich ist Social Media kein guter Weg, Arbeits- oder Freizeit zu gestalten. Viel zu sehr beeinflusst es mein Leben, als dass ich einer KI überlassen will, was ich konsumiere und was nicht. Natürlich gelingt das in unserer Welt immer weniger. Aktives Dagegenhalten ist daher unverzichtbar. Leider ist das unbequem und anstrengend.
Aber das Unbequeme, das Anstrengende und Beschwerliche habe ich auf diesen Seiten schon oft als den einzigen Weg zu Klugheit und Stärke genannt. Auch das Entscheiden kann man verlernen, wenn man es sich einfach macht. Da halte ich es ganz mit Prof. Joe Árvai, den ich ja auch oben schon zitiert habe:
„Indeed, we owe it to ourselves to resist the siren’s call of AI and take back ownership of the true privilege – and responsibility – of being human: being able to think and choose for ourselves.“
„In der Tat sind wir es uns schuldig, dem Ruf der Sirenen der KI zu widerstehen und das wahre Privileg – und die Verantwortung – des Menschseins zurückzugewinnen: in der Lage zu sein, selbst zu denken und zu wählen.“
The hidden risk of letting AI decide – losing the skills to choose for ourselves, Prof. Joe Árvai
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