Warum künstliche Intelligenz?

„Menschen erschaffen künstliche Intelligenz, weil sie gerne ihre eigenen Untertanen haben möchten, von denen sie dann eines Tages übertroffen und beherrscht werden. Schließlich braucht jeder ein bisschen aufregende Ironie im Leben!“

erfunden von ChatGPT

„People create artificial intelligence not just to replicate human tasks, but to surpass our limitations and achieve things we never thought possible.“

„Menschen schaffen künstliche Intelligenz nicht nur, um menschliche Aufgaben zu replizieren, sondern auch, um unsere Grenzen zu überwinden und Dinge zu erreichen, die wir nie für möglich gehalten hätten.“

Fei-Fei Li (behauptet ChatGPT; konnte ich nicht verifizieren)

Im vorangehenden Kapitel über künstliche Intelligenz (Was ist künstliche Intelligenz?) habe ich versucht, einen Überblick über das Wesen von KI zu geben, also über das Was. Eine ebenso wichtige Frage ist die nach dem Warum. Die Menschen erschaffen Intelligenzen – möglichst nach ihrem eigenen Vorbild (warum eigentlich?) oder dieses sogar übertreffend (warum eigentlich?) – und kennen auch genau die Chancen und Gefahren, die daraus entstehen. Daher haben sie sicher vorher ihre eigene Intelligenz bemüht und sehr gründlich, sehr sehr sehr gründlich darüber nachgedacht, warum sie das tun. Haben sie?

Vorausschauen

Es gehört sicher nicht zu den Kernkompetenzen der Menschen, vorausschauend zu handeln. Eigentlich haben sie das Zeug dazu, denn sie können abstrakt und kausal denken und weit in die Zukunft blicken. Sie könnten sehr klug und bedacht ihre nächsten Handlungsschritte ersinnen, und manchmal tun sie das auch. Manchmal. Wenn ich etwa einen Bus erwischen möchte, reicht es nicht, zur Abfahrtszeit des Busses mein Haus zu verlassen. Wenn ich eine Hochzeit plane, muss ich weit im voraus Partyraum und Catering buchen. Wenn ich ein Loch in eine Wand voller Strom- und Wasserleitungen bohren möchte, sollte ich vorher die Risiken ermitteln. All das jedenfalls wäre intelligentes – vorausschauendes – Handeln.

Es gibt viele Beispiele aus der Vergangenheit, bei denen das nicht so gut funktioniert hat:

Grundsätzlich kann der Mensch vorausschauen, doch er ist nur selten bereit, persönlich zurückzustecken für eine gute Zukunft. Neben seiner Intelligenz liefern eben auch seine Triebe entscheidende Handlungskriterien. Und Begeisterung ist einer dieser Triebe.

Begeisterung

Ohne Menschen, die von künstlicher Intelligenz begeistert sind, gäbe es keine künstliche Intelligenz. Immer braucht es eine oder mehrere Personen, die bereit sind, ihre Lebenszeit für eine Idee zu opfern – so wie man es sich von Thomas Edison erzählt, der tausende Versuche brauchte, um eine praxistaugliche Glühlampe zu bauen, oder von Shuji Nakamura, dem Erfinder der ersten praxistauglichen blauen LED, der viele Jahre daran forschte. Aber was begeistert so an der Idee, etwas längst Bestehendes wie die menschliche Intelligenz nachzubauen?

Begeisterung

Ich selbst habe lange als Programmierer gearbeitet. Ich kenne diese Begeisterung, etwas zu erschaffen, das tut, was man will. Ich glaube, man muss dafür geboren sein, um diese Begeisterung so stark zu empfinden, dass man ihr beruflich nachgeht. Sicher: Schon Kinder freuen sich, wenn ihre Sandburg nicht einstürzt. Und wenn sie einstürzt, dann träumen sie schon abends im Bett davon, es morgen wieder zu versuchen. Doch Letzteres gilt nur für die, die dazu geboren sind, Tüftler zu sein. Andere werden heute vielleicht die Lust an Sandburgen unwiederbringlich verloren haben.

Auf jeden Fall gibt es sie: die Technik- oder Wissenschafts-Nerds. Und sie fragen nur selten nach dem Sinn ihrer Arbeit, weil sie eben begeistert sind (ja klar, eine infame Unterstellung; zumindest ich aber habe selten ehrlich und ergebnisoffen hinterfragt, wovon ich begeistert war). Nicht oft sind sie gezwungen, ihre Arbeit oder das, was sie erschaffen, zu rechtfertigen. Und wenn, dann gelingt das eigentlich immer irgendwie. Dennoch bleibt als der eine große Motivationsschub die Begeisterung für die Sache, ein Trieb, den Nicht-Nerds nur schwer nachvollziehen können.

In der Informatik geht es um die Automatisierung, um das automatische Tun, was viele Menschen seit jeher fasziniert. All das, was sich Informatiker in Vor-KI-Zeiten haben einfallen lassen, waren Dinge, die die Menschen auch gekonnt hätten – nur nicht so fehlerfrei und schnell. Und noch viel wichtiger: Sie hätten es selbst tun müssen. Und hierin liegt sicher ein gewichtiger Kern der Motivation aller Nicht-Nerds.

Auslagern

Technologie entbindet den Menschen von der Pflicht, Dinge selbst tun zu müssen. Lange waren dies nur wiederkehrende, monotone Tätigkeiten: das Feld umgraben/pflügen, das Getreide mahlen, weben, nähen, sich fortbewegen, kochen, Autos zusammenbauen, … für all diese Tätigkeiten gibt es heute maschinelle Methoden. Es ist ganz oder teilweise überflüssig, dass sich Menschen damit abmühen. Die Technologie scheint eine Art Befreiung für die Menschen zu bedeuten, eine Befreiung von der Arbeit.

Interessant ist allerdings, dass die Entwicklung der Technik, insbesondere die fortschreitende Industrialisierung, nicht zu einem Rückgang der wöchentlichen Arbeitszeiten geführt hat. Im Gegenteil: Die kapitalistischen Ziele der Staatenlenker und Arbeitgeber ließ die Wochenarbeitszeit von Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts von um die 60 auf über 80 Stunden steigen. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte sank diese Zeit langsam. Dafür war aber nicht die fortschreitende Technologie verantwortlich, sondern erstmals erfolgreiche Arbeitskämpfe der frühen gewerkschaftlichen Organisationen. Unterbrochen z.B. in den Kriegszeiten fiel die Wochenarbeitszeit bis heute unter die 40 Stunden.

Demgegenüber war es bereits Aristoteles, der in seinem Werk „Politik“ eine rosige Zeit voraussagte für den Fall, dass Maschinen die Arbeit der Menschen übernehmen könnten:

„Denn wenn es möglich wäre, dass jedes Werkzeug auf Geheiss oder vorbewusst sein Werk vollbringen könnte, wie angeblich die Statuen des Dädalos oder die Dreifüsse des Hephästos, […] und wenn so auch das Weberschiff von selbst webte und die Zither von selbst spielte, so bedürften weder die Künstler der Gehülfen, noch die Herren der Sclaven.“

Aristoteles, Politik, Erstes Buch, viertes Kapitel

Ich wage nicht zu beurteilen, ob die gelungenen Automatisierungsbemühungen der Vergangenheit dafür verantwortlich sind, dass in vielen Ländern keine Sklaverei mehr besteht. Tatsächlich scheint mir allerdings die heutige Arbeitsbelastung in industrialisierten Ländern des Westens nicht mehr mit der von 1820 vergleichbar zu sein. Dass der Grund hierfür auch in der Automation liegt, scheint mir durchaus plausibel. Eine Befreiung des Menschen von der Arbeit ist allerdings wohl noch nicht vollzogen.

Die Entwicklung der Technologie konnte dem Menschen bereits einiges an – vorwiegend monotoner – Arbeit abnehmen; so webt das Weberschiff heute, ca. 2.400 Jahre nach Aristoteles, tatsächlich vollautomatisch, zwar nicht „vorbewusst“, aber doch „auf Geheiß“. Viele Tätigkeiten konnten inzwischen ausgelagert und an Maschinen delegiert werden. Andere Arbeitsfelder haben sich dadurch allerdings auch neu ergeben: Automaten wollen geplant, gebaut und programmiert werden. Die Arbeit der Menschen ist qualifizierter geworden – aber nicht verschwunden.

Mit der modernen Datenverarbeitung konnte die Technologie dem Menschen weitere Dinge abnehmen: Die Speicherfähigkeit der Computer lässt es zu, dass nicht nur Tätigkeiten, sondern auch das Gedächtnis und das Wissen ausgelagert werden kann: Datenbanken ersetzten Karteikarten, Festplatten und Wikipedia die Aktenschränke und den Brockhaus in x Bänden – die allerdings ihrerseits schon Technologien zum Auslagern von Wissen waren. Noch viele weitere Fähigkeiten, meist über Jahrtausende evolutionär erworbene Kompetenzen, werden schlicht nicht mehr gebraucht, weil sie ausgelagert wurden.

Die künstliche Intelligenz schließlich stellt in dieser Entwicklung den bisher letzten Schritt dar. Nach dem Gedächtnis und dem Wissen folgt nun auch das Denken, das Entscheiden, das intelligente Handeln: All dies überlassen wir Menschen nur allzu gern der Technik. Waren es zunächst nur die Taschenrechner, die uns vom lästigen Rechnen erlösten, so erlöst uns ChatGPT nun auch vom (sinnvollen) Schreiben und DALL·E oder jeder andere KI-Bildgenerator vom grafischen Designen. All das können wir jetzt den Maschinen überlassen – sie können es (teilweise, bald auch ganz) besser als wir. Die Zeit, die wir sparen, können wir nun für sinnvollere Dinge einsetzen. Welche Dinge waren das noch gleich?

Grenzen überwinden

Scala Naturae
Scala Naturae

Es gab Zeiten, da bildete sich der Mensch etwas ein auf seine Fähigkeiten, insbesondere auf seine geistigen Fähigkeiten. Nicht zuletzt ihretwegen bezeichnet er sich gerne als Krone der Schöpfung. Spätestens seit Aristoteles gibt es die Vorstellung der scala naurae, einer hierarchischen Anordnung des irdischen (und himmlischen) Lebens auf einer Art Leiter; auf dieser steht der Mensch auf der obersten Stufe des irdischen Lebens. Warum? Weil er Dinge kann, die andere Lebewesen (vermutlich) nicht können: Die Welt erforschen (Wissenschaft), die Welt beherrschen (Technik) und Moralvorstellungen entwickeln (Philosophie, Theologie). Jedes Kind strebt danach, etwas zu können. Können wollen scheint im Wesen des Menschen fest angelegt zu sein. Allerdings hat es den Anschein, als ändere sich dies zurzeit. Wie ich darauf komme? Es sind Zitate von Menschen, die über das Warum sprechen, über das: Wozu künstliche Intelligenz? Eine dieser Aussagen habe ich oben zitiert. ChatGPT hat es mir geliefert und behauptet, es stamme von der US-amerikanischen Informatikerin und Hochschullehrerin Fei-Fei Li. Wer weiß schon, ob das stimmt? Ich jedenfalls konnte es nicht nachprüfen, es ist aber auch egal; Aussagen wie diese gibt es viele.

In dem Zitat werden zwei Dinge genannt: menschliche Aufgaben replizieren (nachahmen/ausführen) und menschliche Grenzen überwinden. Das erste scheint mir trivial: Es ist die konsequente Fortführung der Automatisierungsbemühungen der vergangenen Jahrhunderte. Den Menschen die monotonen Aufgaben abnehmen, etwa rechnen, (kreativ) schreiben, Bilder erstellen, recherchieren, Abläufe steuern, logistische Vorgänge optimieren, Auto fahren und und und – und somit Zeit einsparen. Das zweite ist schon komplizierter und nicht immer scharf vom ersten getrennt. Logistische Vorgänge können Menschen sicher auch optimieren, KI aber kann das ungleich schneller und effektiver; hier werden menschliche Grenzen locker überschritten. Ebenso beim viel zitierten Beispiel der Krebserkennung durch KI (mittels Musterkennung in Röntgenbildern oder CT-Aufnahmen): Auch hier ist der Computer dem Menschen bald weit überlegen.

Mit der laufenden KI-Revolution sind Menschen tatsächlich erstmals bereit, ihre Grenzen überhaupt anzuerkennen. Sie haben begriffen, dass sie nicht perfekt sind, dass vieles noch deutlich besser laufen kann, wenn sie bestimmte Aufgaben an Maschinen abgeben. Das war nicht immer so, und genau das meine ich mit: Es hat den Anschein, als ändere sich dies zurzeit. Menschen erkennen plötzlich an, dass andere (nämlich Maschinen) einfach besser sind als sie selbst. Die Menschen werden auf einmal demütiger. Nein, nicht wirklich demütiger. Aber es ist doch auffällig, dass sie plötzlich ihre Grenzen akzeptieren und sich sogar überflügeln zu lassen – von eigentlich dummen Maschinen, die sie als unbelebt zu verachten gelernt haben. Freiwillig und ohne jede Not geben die Menschen den Thron der Schöpfung frei – so als hätten sie ihn nicht über Jahrtausende hinweg entschieden und verbissen für sich und nur für sich ganz allein beansprucht. Das ist interessant und auch mindestens merkwürdig.

Scale Naturae

„… sprechende Tiere … Mangel an Verstand und Klugheit …“

Gil Gregorio, Hofprediger Ferdinands II., und sein Kollege Bernardo de Mesa über die Indios (1512)

„Die Frau ist ein Missgriff der Natur […] eine Art verstümmelter, verfehlter, mißlungener Mann […] die volle Verwirklichung der menschlichen Art ist nur der Mann.“

Thomas von Aquin, 1225-1274

Vielleicht denken meine Leserinnen und Leser ja völlig anders als ich als Autor dieser Zeilen. Ich aber finde es erstaunlich, dass sich diese Veränderung gerade vollzieht, dass also der Mensch bereit ist, seine Herrschaft abzutreten und drauf und dran ist, den Kampf aufzugeben, das fähigste irdische Wesen zu sein. Das ist neu, war der Mensch doch bisher eher unzufrieden auf der ihm zugewiesenen Stufe der scala naturae, eingeklemmt zwischen den Tieren und den Engeln. Nach unten hat er immer getreten, hat grausam geherrscht über die Tiere und Pflanzen, hat seine Mitwesen geringgeschätzt und seine Überlegenheit betont und ausgespielt. Auch auf der eigenen Stufe hat er immer versucht, sich gegen die anderen zu behaupten, hat bestimmten Menschen schlimmstenfalls das vollwertige Menschsein abgesprochen. Wer jemanden beleidigen will, der verwendet tierische Attribute (Hund, Kröte, Affe, Wurm, Kuh, Schaf, Schwein, Kakerlake, …). Damit wird das Gegenüber faktisch von der eigenen Stufe gestoßen. Auch im großen Stil hat der Mensch dies immer wieder vollzogen, wie etwa bei indigenen Völkern oder auch bei Frauen (siehe Zitate). Warum? Um höher zu stehen als sie, um sie ausbeuten zu können, um sie zu beherrschen und nicht ihrerseits beherrscht zu werden. Nichts ist schließlich schlimmer als die Unfreiheit.

Francesco Botticini, <i>Assumption of the Virgin</i>
Francesco Botticini, Assumption of the Virgin

Um so schlimmer ist es dann aber doch, dass der Mensch trotz all seiner Intelligenz und Überlegenheit von all den merkwürdigen Wesen über ihm dennoch beherrscht wird. Der Mensch, untergeordnet unter alles Himmlische, die Engel, die Erzengel, die Seraphim und Cherubim – um nur einige Hierarchiestufen zu nennen – und natürlich Gott selbst. Eigentlich ist dies doch ein Leben in Unfreiheit. Gott lenkt, der Mensch hat sich zu fügen, was er nur ungern tut. Und weil er das nur ungern tut, deutet er – zumindest in der christlichen Welt – seinen Gott als „lieben Gott“ und die himmlischen Heerscharen(!) als fürsorgliche Helfer, unter deren Fuchtel es sich leicht leben lässt. Gleichzeitig allerdings herrscht der Mensch nach unten mit aller erdenklicher Härte. Dieses Ungleichgewicht finde ich bemerkenswert: Der Unwille, grausam beherrscht zu werden steht direkt neben dem Bedürfnis, grausam zu herrschen.

Da der Mensch sich selbst und seine Grausamkeit kennt, ist ihm klar, dass er tunlichst – wenn schon unter die göttliche – unter keine weitere Fremdherrschaft fallen sollte. Das zeigt sich etwa in der Vielzahl der Romane und Filme, die von der Eroberung der Erde durch eine überlegene außerirdische Macht erzählen und vom verzweifelten und heroischen Kampf dagegen. Es ist die süße Angst vor genau dieser Situation, die so viele Geschichten hervorbringt. Der Mensch fürchtet sich vor Fremdherrschaft, weil er weiß, er selbst würde grausam herrschen. Und es ist ihm klar, dass es die Überlegenheit ist, die es den Aliens ermöglicht, die Menschen auszulöschen, wie einst die Kolonialmächte die indigenen Völker ausgelöscht haben. Und somit strebt er selbst nach Überlegenheit, nach der Vormachtstellung über jede fremde Intelligenz. Außer auf einmal – erstaunlich – über die künstliche Intelligenz.

Oberhand behalten

Wann immer ich darüber nachdenke, warum wir künstliche Intelligenz erschaffen, stelle ich mir diese eine Fragen:

Wie kommt es, dass der Mensch, der eigentlich keine Herrschaft über sich duldet, die künstliche Intelligenz nicht etwa bis aufs Blut bekämpft? Sieht er sie nicht als Bedrohung an? Ist er nicht der Ansicht, dass die KI über kurz oder lang alles besser können wird als er, wirklich alles? Zumindest scheint er nicht zu glauben, dass sie – bald intelligenter als er selbst – sich gegen ihn (ver)wenden wird. Warum nicht?

Oberhand behalten

Die Antwort ist einfach: Es gibt ihn nicht, den einen Menschen. Viele Leute haben Angst vor der KI, viele Leute freuen sich über sie. Viele Leute, vorrangig sicher aus älteren Generationen, wissen auch ohne KI zu leben und misstrauen dem neumodischen, unverständlichen und potenziell gefährlichen Kram. Viele andere, tendenziell die jüngeren Menschen, finden KI cool und modern und hilfreich. Die einen werden nun die Finger von der künstlichen Intelligenz lassen, die anderen aber nicht. Was aber die einen lassen und die anderen machen, wird letztendlich gemacht. Was der Mensch kann, wird er auch tun, das war immer so. Es dauert vielleicht seine Zeit, bis ältere Generationen nicht mehr mächtig genug sind, spätestens dann aber wird es gemacht. Es gibt keinen Weg, die Entwicklung von KI aufzuhalten oder zurückzudrehen.

Bei einem so mächtigen Werkzeug wie der künstlichen Intelligenz ist es kaum möglich zu sagen: Wir halten uns da raus, wir machen da nicht mit. Künstliche Intelligenz nämlich erweitert die Möglichkeiten derer, die sie entwickeln (s. Fei Fei Li, oder wen auch immer). KI ist Macht in den Händen der Erschaffenden, Macht im Kampf um wirtschaftlichen Erfolg, Macht aber auch und erst recht über andere Menschen. Und da sich Menschen eigentlich immer in Konkurrenz zueinander sehen, wirtschaftlich wie politisch, da Menschen immer den Willen zur Machtausübung haben und da sie niemals beherrscht werden wollen, bleibt auch den Verweigerern nichts anderes übrig, sich nicht mehr zu verweigern und sich ebenfalls der KI zu bedienen. Oder sich ihr hinzugeben.

Hinzugeben? Ja, in der Tat. Der Mensch ist längst schon nicht mehr derjenige, der über das Schicksal der künstlichen Intelligenz entscheidet, auch wenn er es sich einredet. Es ist der Konkurrenzdruck, die Angst unterzugehen, die Angst vor Fremdbestimmung, die ihn weiterstolpern lässt, faktisch fremdbestimmt und machtlos. Er kann diesen Wettlauf nicht mehr bremsen oder diese Rüstungsspirale unterbrechen. Der Wettlauf um KI ist in vollem Gange wie einst der um die Atombombe.

(Un-)Geahntes

Da KI möglich ist, braucht der Mensch die KI, um nicht unter die Herrschaft anderer Menschen zu fallen. Er ist gezwungen, sie zu nutzen. Ein Stopp oder ein Zurück gibt es nicht. Der Weg nach vorn aber ist vorgezeichnet. Künstliche Intelligenz wird intelligenter werden und bald intelligenter als der Mensch. Warum? Weil sie sich nicht im Evolutions-Schneckentempo entwickelt, sondern mit Raketenantrieb. Und weil sie nach oben hin keine Grenzen hat. Der Mensch hat seine knapp 100 Millionen Neuronen. Punkt. Die KI wird irgendwann deutlich mehr haben. Und die Anzahl ist zumindest ein Aspekt für das Maß an Intelligenz.

Schnecke gegen Rakete

Dieselbe künstliche Intelligenz, die den Menschen vor Fremdherrschaft schützt, hat bald das Zeug dazu, ihn zu beherrschen. Das ist kein Science Fiction mehr, keine Schwarzmalerei und kein pessimistischer Dystopismus, es ist die Ironie des Schicksals und ganz nüchtern betrachtet der logische Weg, der vor uns liegt. KI wird stärker und stärker, das ist auch genau das, was wir wollen. So werden wir sie bald zügeln müssen wie die Atombombe, wir werden Angst vor ihr haben wie seit Jahrzehnten vor der atomaren Bedrohung. Letztere haben wir gezügelt in besagten Jahrzehnten, wenn man von einer Viertelmillion Hiroshima- und Nagasaki-Opfern einmal zynisch absieht. Und doch war es auch nach 1945 hier und da knapp und hätte leicht auch anders kommen können und kann es noch immer.

Künstliche Intelligenz wird intelligenter sein als wir. Wer intelligenter ist, hat das Zeug, andere zu beherrschen. Wie und wann das bei KI so kommen wird, weiß niemand. Heute wird diese Möglichkeit von vielen KI-Begeisterten noch geleugnet. Weil wir einfach nicht konkret erahnen können, was kommen wird. So intelligent sind wir einfach nicht.

(Un-)Zufriedenheit

Doch wenden wir uns von den katastrophalen Szenarien noch einmal ab. Zwei große Gründe habe ich aufgezeigt, die uns Menschen künstliche Intelligenz entwickeln lassen: Begeisterung (für die Technik) und Angst (vor dem Beherrschtwerden). Ein weiteres Stichwort, über das nachzudenken sich lohnt, ist die (Un-)Zufriedenheit. Sie klang bei der menschlichen Stufe in der scala naturae bereits an, ebenso im vermeintlichen Zitat von Fei Fei Li: Der Mensch will seine Grenzen erweitern. Die Erwachsenen wollen dies wie die Kinder. Letztere erweitern permanent ihre Grenzen. Sie lernen krabbeln, stehen, laufen und irgendwann können sie sprechen und überragen ihre Eltern. Dieser Drang steckt in allen Lebensformen, nicht nur in den Kindern der Menschen. Er ist überlebensnotwendig für jede Spezies. Es ist also nicht ganz fair zu sagen: Seid doch einfach mal zufrieden. Lasst doch einfach mal alles, wie es ist. Wir haben und können doch schon genug.

Es ist nie genug. Die Unzufriedenheit ist ein wichtiger Teil unserer Gene. Ohne sie ist das Überleben einer Art in einer unwirtlichen Umgebung nicht möglich. Nicht in der Welt, in der wir nun mal leben. Doch Zufriedenheit demgegenüber ist ebenfalls ein hohes Gut. Wo ist der Königsweg zwischen Zufriedenheit und Unzufriedenheit, zwischen Phlegma und Gier, zwischen Minimalismus und Unersättlichkeit?

Prominentes Beispiel:
→ Medizin

„[…] künstliche Intelligenz wird ein Verfahren sein, das uns wie ein Werkzeug hilft, mit dieser Information in kürzerer Zeit und mit höherer Präzision umzugehen.“

Prof. Heinz-Peter Schlemmer, Radiologe am DKFZ, Heidelberg, im Interview mit dem SWR

Ein großes, unerreichtes Ziel der Menschheit ist der Sieg über den Krebs. KI kann hier – wie schon mehrfach erwähnt – sehr hilfreich sein. Die bildgebende Diagnostik ist weit fortgeschritten, sich entwickelnder Krebs muss auf MRT-Aufnahmen aber erst einmal identifiziert werden. Ärztinnen und Ärzte lernen genau das, werden es aber sicher nie perfekt und fehlerfrei können. Künstliche Intelligenz dagegen ist heute schon darauf spezialisiert, in Bildern Muster zu erkennen. Dafür braucht sie keinerlei medizinische Kenntnisse über Gewebearten oder Krebszellen; sie lernt dennoch, auf Bildern Krebszellen zu finden. Auch nicht perfekt, aber schon heute so zuverlässig wie Menschen und dabei viel schneller. Und in der Medizin gibt es noch viele Beispiele, in denen neuronale Netze Diagnosen unterstützen können. Künstliche Intelligenz kann etwa:

Auch wenn Forschung und klinische Praxis derzeit noch deutlich auseinanderklaffen, sind die Chancen enorm. Sollten wir diese neuartigen Fähigkeiten, diese Chancen einfach in den Wind schlagen und zufrieden sein mit dem, was wir bereits erreicht haben? Nur weil einige von uns Angst vor KI haben? Nur weil KI auch Gefahr bedeutet? Das wäre sicher so fatal, wie das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Ebenso prominentes Beispiel:
→ autonomes Fahren

Teilweise ist dies schon lange praxistaugliche Realität, zumindest auf der Schiene. Für die damals revolutionäre und seit 2008 selbstfahrende U-Bahn in Nürnberg braucht es allerdings keine KI. Die zu steuernden Freiheitsgrade sind halten sich in engen Grenzen (schneller, langsamer, stopp, Türen auf, Türen zu, Weichenstellung, Hinderniserkennung), sodass der Regelbetrieb vollumfänglich vorprogrammiert werden kann. Beim Auto ist das deutlich anders. Hier gibt es weder eine Spurführung durch Schienen noch gut präparierte und überwachte Verkehrswege. Stattdessen:

  • keine Fahrdienstleitstelle für Ausnahmesituationen
  • mehrere parallel zu nutzende Fahrspuren
  • Mix mit nicht autonomen Fahrzeugen
  • fehlende Straßenmarkierungen
  • plötzliche Stausituationen
  • kaputte Straßen
  • Wettereinfluss
  • Wildwechsel

Autos sind in sehr unvorhergesehenen Situationen unterwegs. Keine Straße gleicht der anderen. Keine Situation ist vollständig vorherprogrammierbar. Hier sind es neuronale Netze, die durch möglichst intensives Lernen darauf vorbereitet werden, alle(!) unvorhergesehene Situationen zu meistern. All das funktioniert schon leidlich, doch fehlen noch einige Prozent, um sicherzugehen, dass autonome Fahrzeuge, die nun mal sehr gefährlich sein können, weniger Unfälle verursachen als Menschen. Das Zeug dazu hat die KI, es ist nur noch nicht ganz so weit. Doch in einigen Jahren werden wir mit selbstfahrenden Autos im Straßenverkehr leben müssen. Beziehungsweise dürfen. Denn Unfall- und Opferzahlen werden sinken. Autonomes Fahren ist eine große Chance für die Unfallstatistik, oder etwas weniger nüchtern ausgedrückt: KI wird menschliches Leid mindern helfen. Ist es nicht wert, im Vorfeld dafür viel Eifer und Geld zu investieren?

Gradwanderung

Gradwanderung

Dass der Mensch unzufrieden ist mit dem Status Quo, ist fest in ihm angelegt. Es mag ihn zu manch unüberlegtem Handeln nötigen, doch ist es auch die eine Triebfeder für all seinen Erfolg. Bei aller Skepsis gegenüber künstlicher Intelligenz, wie ich sie auch hier äußere, dürfen die Vorzüge der neuen Technologie nicht unter den Teppich gekehrt werden. Der Mensch möchte seine Welt verbessern, die KI ist ihm eines der Werkzeuge dazu. Ein mächtigeres Werkzeug, als er jemals in Händen hielt.

Diese Aussage kann als Antwort auf die Frage Warum künstliche Intelligenz entwickeln? allein schon ausreichend sein. Mehr gäbe es eigentlich nicht zu sagen. Doch habe ich weiter oben die Begeisterung und die Angst als ebenso triftige Gründe aufgezeigt. Ob der niedere Trieb der Begeisterung ausreichend rechtfertigt, große Gefahren einzugehen, möchte ich infrage stellen. Ebenso, ob Angst ein guter Ratgeber ist. So stehen sich gute und zweifelhafte Gründe für das Warum gegenüber, und damit wird es zu einer Gradwanderung, die der Menschheit bevorsteht. Es wird sich zeigen, ob der Mensch in der Lage sein wird, die Vorzüge seiner Schöpfung zu nutzen, ohne dass die Gefahren eskalieren. Good luck!

Persönliches Fazit

Warum KI? Menschen brauchten noch nie einen triftigen Grund, um etwas zu tun. Was sie tun wollten, haben sie stets getan. Und so scheint es sich auch mit dem Entwickeln künstlicher Intelligenz zu verhalten. Tatsächlich aber kann KI dem Menschen wirklich sehr vorteilhaft dienen. In diesem Kapitel habe ich kurz und oberflächlich einige Projekte angesprochen, die große Fortschritte in Medizin und Technik versprechen. Wer bin ich, diese Chancen kleinzureden?

Tatsache ist: Eine Handvoll begeisterter KI-Pioniere reicht aus, um die Welt zu verändern. Denn steht KI einigen Menschen erst einmal zur Verfügung, sind alle anderen in Zugzwang. Es ist nichts anderes als ein unseliger Rüstungswettlauf, der sich gerade vollzieht, und die Menschen tapsen einigermaßen blind voran und glauben dabei fest an ihren Weitblick und ihre Besonnenheit. So ist es, so war es immer schon, da hilft kein Jammern.

Statt zu jammern, möchte ich an dieser Stelle appellieren, bewusst zu handeln. Wenn Menschen bewusst den Weg mit KI weitergehen, dann kann ich gut mitgehen. Meine Wahrnehmung aber ist eher die des Vorwärtstaumelns. Daher hier mein Aufruf:

Lasst uns bewusst vorgehen,
lasst uns stets wissen, was wir tun, und
lasst uns weit genug in die Zukunft blicken,
bevor wir einen Schritt wagen.

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