Wozu Geduld?

Du solltest geduldiger werden

Geduld ist eine Tugend. Das sagen jedenfalls die, die sie haben. Für alle anderen ist Geduld eher ein Kampf. Geduld scheint mir sehr ungleich verteilt zu sein unter der Menschheit. Dabei begegnen mir geduldige Menschen viel seltener als ungeduldige. Ich selbst würde mich als geduldig beschreiben. Ob Geduld aber nun wirklich eine Tugend ist oder ob sie auch schädlich sein kann, möchte ich hier einmal untersuchen. Ebenso, was die alltägliche Anwesenheit künstlicher Intelligenz mit unserer Geduld macht.

Geduld? Was ist das?

Geduld ist die Fähigkeit, stillschweigend zu akzeptieren, dass alles ewig dauert – außer die Dinge, die man gerne länger genießen würde.

erfunden von ChatGPT

Jeder und jede weiß, was Geduld ist. Oder Ungeduld. Doch es in Worte zu fassen, erfordert schon etwas Nachdenken. Wer Geduld hat, ist in der Lage, entspannt auf etwas zu warten. Wer keine Geduld hat, den zermürbt jede aufgezwungene Wartezeit. Damit scheint alles gesagt. Will man etwas tiefer gehen, sucht man nach der sprachlichen Wurzel, die dieselbe ist wie bei dem Wort tolerieren, im Lateinischen etwa: tollere (aufheben, auf sich nehmen, wegschaffen) oder tolerāre (tragen, ertragen). Patience, das englische Wort für Geduld, lässt sich auf das lateinische patiens (erduldend, ertragend, ausharrend) zurückführen. Letztlich beschreibt die Geduld also die Mühsal des (Er-)Tragens.

Ich habe auch ChatGPT nach einer Definition von Geduld gefragt. Das bissige Statement, das mir dieser vorlaute ChatBot geliefert hat (s.o.), beinhaltet tatsächlich viel, was diesen Begriff ausmacht:

  • es geht um die Akzeptanz widriger Umstände
  • ebenso darum, entspannt darin zu bleiben
  • die Zeit ist ein entscheidender Faktor
  • Geduld ist eine Fähigkeit
  • die Welt ist ungerecht

Akzeptanz widriger Umstände

Die Wortbedeutung ertragen macht deutlich, dass es bei Geduld darum geht, Unangenehmes auszuhalten. Dieses Unangenehme kann aus vielen Dingen bestehen: mit Hunger aufs Mittagessen warten, im Stau stehen, der Zug hat Verspätung, eine Krankheit braucht lange zum Ausheilen, ein Werkstück braucht Tage für die Fertigstellung, ein aufgeforsteter Wald muss wachsen, und und und. Jeder und jede weiß selbst am besten, in welchen Situationen die eigene Geduld herausgefordert ist und wann sie gerne mal versagt. In jedem Fall handelt es sich um einen Umstand, den man lieber vermeiden würde. Was man aber vermeiden möchte, versucht man abzuwenden: Wenn es zu dunkel ist, schalte ich das Licht an, wenn es juckt, dann kratze ich, wenn mir der Weg zu lange dauert, gehe ich schneller. Häufig ist das sinnvoll und führt zu einem guten Ergebnis. Diese Handlungsfähigkeit, diese Möglichkeit, unsere Welt zu unserer Zufriedenheit zu beeinflussen, macht unser Leben aus.

Manchmal aber funktioniert das nicht. Der genannte Wald etwa braucht so viel Zeit zum Wachsen, wie er braucht. Und eine unheilbare Krankheit wird vermutlich sogar niemals heilen. So kommt überall, wo das Individuum machtlos ist, die Geduld ins Spiel und das Ertragen. Nein, mehr als das: das entspannte Ertragen.

Entspannt bleiben

Auch der ungeduldigste Mensch erträgt den Stau auf der Autobahn. Niemand versucht, mit seinem Auto durch die Blechlawine vor ihm hindurchzubrechen. Sogar der Standstreifen ist ein erstaunlich akzeptiertes Tabu. Doch auch wenn alle Betroffenen sich mehr oder weniger nacheinander durch den Engpass quetschen, geht doch jeder Verkehrsteilnehmer anders um mit der Situation.

Geduld im Stau

Man kann es oft am Fahrstil erkennen: So manches Auto fährt scharf an, um fünf Meter weiter ebenso scharf wieder abzubremsen. Manchmal hat man das Gefühl, der Hintermann (ja, meist Männer) will einen anschieben, so nah fährt er auf. Insbesondere der zu geringe Abstand, der oft genug zu kleinen Unfällen im Stau führt, ist ein Zeichen für Ungeduld. Man fährt nah auf in der irrigen Vorstellung, man erreiche auf diese Weise eher sein Ziel. Man fährt schneller an, weil man so das Gefühl hat, besser vorwärtszukommen. Beides ist Unsinn, doch die Ungeduld verleitet einen dazu. Und auch die berechtigte Angst, jemand Ungeduldiges könnte sich in die verlockende Lücke zum Vorausfahrenden drängeln.

Es gibt aber auch die besonnenen Fahrerinnen und Fahrer. Das sind die, die die Ruhe weg haben und massig Abstand nach vorne lassen, so gleichförmig wie möglich voranschleichen und damit Sprit, Bremsbeläge und Nerven sparen. Sie halten die unschöne Zeit nicht nur aus, sie akzeptieren sie. Sie sind ruhig und gechillt – geduldig eben. Während anderen der Kragen platzt, während sie schimpfen und fluchen, behalten die Geduldigen ihre gute Laune und warten, bis sich demnächst einmal alles zum Guten wenden wird. Wer weiß schon, wie sie das schaffen. Haben sie keine Zeitnot?

Die Zeit

Die Zeit bestimmt uns alle. Zeit ist immer knapp. Oder sagen wir: immer mal wieder. Wer mit Zeitdruck im Auto sitzt, wird einen Stau kaum ertragen können, dem wird die Ungeduld die Laune vermiesen. Völlig klar natürlich, denn es kann immerhin sein, dass er oder sie zu spät zu einem wichtigen Termin kommt, ihn vielleicht ganz verpasst und damit auch große Chancen auf was auch immer. Die Zeit kann ein existenzieller Faktor sein, und je existenzieller, desto utopischer ist ein geduldiges Warten.

Selbst bei Dingen, bei denen kein äußerer Druck herrscht, sitzt einem oft die Zeit im Nacken. Wenn ich zum Beispiel etwas schreibe wie diesen Artikel hier, für den es keinerlei Deadline gibt, dann will ich nichts lieber als fertigwerden. Nicht, dass es mir keinen Spaß macht zu schreiben, im Gegenteil. Aber ich könnte in der Zeit, in der ich hier über den nächsten Satz nachgrübele, ja schon den übernächsten schreiben; oder den nächsten Artikel, der mich ebenso beschäftigen wird. Oder ich könnte schon ein weiteres Projekt beginnen, ein Buch schreiben oder eine Firma gründen. Stets gibt es etwas, das man als nächstes tun möchte. Also gilt es immer, das aktuelle Projekt zeitig abzuschließen. Unsere eigene Geschwindigkeit begrenzt unser Tun – und Begrenzungen mögen wir gar nicht.

Legolas der Elb, chillig

Ich frage mich manchmal, wie Elben diesbezüglich denken. Elben sind die edlen Wesen in Tolkiens Herr der Ringe, die nicht nur stark und klug sind, sondern außerdem unsterblich (solange sie nicht gewaltsam getötet werden). Empfindet so ein Elb auch Ungeduld beim Schreiben eines Textes? Spontan denke ich: Nein, warum? Alles, was er vorhat, kann er später noch erledigen. Seine Lebenszeit ist nicht begrenzt. Er kann tausend Bücher schreiben und sich Zeit lassen, wie er will. Ein Elb müsste ein Meister des Im-Hier-und-Jetzt-Lebens sein. Er kann jeden Moment auskosten, sogar in die Länge ziehen wie etwa all „die Dinge, die er gerne länger genießen würde“. Er kann ganz ruhig und entspannt bleiben, wenn etwas mal wieder „ewig dauert“. Oder wenn er einfach nur mit einem Glas Wein in seinem Lieblingssessel sitzt und chillt. Ihm bleibt auch danach noch genug Zeit. Doch ist das wirklich so?

Nicht ganz. Auch die Elben in Tolkiens Herr der Ringe haben es durchaus eilig. Sie müssen Sauron, ihren bösen Widersacher, besiegen. Sie rennen und galoppieren, und im Kampf schießen sie – Legolas allen voran – einen Pfeil nach dem anderen auf die Feinde ab, schneller, als jeder sterbliche Mensch es kann. Ihr Zeitdruck kommt von außen: Sauron droht die Welt zu unterjochen.

Gerade die Nöte der Elben zeigt, dass Geduld nicht immer eine Tugend ist. Oft genug ist schnelles Handeln vonnöten, insbesondere bei den schon genannten existenziellen Faktoren. Auch und ganz besonders bei den Elben, denn sie könnten ewig leben, wenn nur Saurons Orks sie nicht töten. Elben haben so richtig etwas zu verlieren, das setzt sie sicher enorm unter Druck. Somit müssten gerade diejenigen am wenigsten Geduld haben, die theoretisch die meiste Zeit haben: die Elben.

Dieser nicht ganz ernst gemeinte Ausflug nach Mittelerde (u.a. dort leben die Elben) macht deutlich, dass es mitunter wichtig ist, zu handeln und keine Zeit zu vergeuden. Nur selten gibt es mal nichts im Leben, das keine Deadline hat. Sie mag weit in der Zukunft liegen, doch sie ist da – in Form eines wichtigen Termins oder des eigenen Lebensendes – Deadline eben. Ein gutes Maß an Ungeduld ist also angebracht. Als Tugend aber gilt allein die Geduld.

Es ist so wie bei vielen Dingen im Leben: Der Königsweg liegt in der Mitte und verläuft mal hier und mal dort, je nach Situation:

  • Widrige Umstände, die sich ändern ließen, bleiben bestehen, wenn man sie mit Geduld erträgt.
  • Ungeduld aber, also der Widerwille, sie zu ertragen, bringt oftmals schnelle Linderung.
  • Widrige Umstände, die sich nicht ändern lassen, zermürben ungeduldige Menschen.
  • Mit Geduld aber kann so manche Situation ertragen und die Lebensfreude erhalten werden.

Fähigkeit

Allerdings ist es ganz so, wie oben bereits geschrieben: Geduld (und Ungeduld) ist unter der Menschheit ungleich verteilt. Wie bei anderen Fähigkeiten auch, sind manche Menschen fähiger als andere. Ein Teil der Geduld steckt in den Genen. Doch ist es wie mit anderen Fähigkeiten auch: Man kann sie erlernen, zumindest in gewissen Grenzen. (Ungeduld dagegen müssen die wenigsten lernen.)

Babys haben noch nicht so viel Geduld. Wenn sie Hunger haben, haben sie Hunger, dann muss es was zu essen/trinken geben. Jetzt! Sofort! Auf der Stelle. Das ist so in uns angelegt: Ein Bedürfnis muss gestillt werden. Möglichst sofort. Schreiende Säuglinge machen es uns vor. Und sie haben Erfolg damit!

Etwas später in der Kindheit lernt man dann allerdings Geduld. Jedenfalls wenn es die Eltern darauf anlegen und ihre Kinder nicht immer weiter behandeln wie Babys. Nach und nach lernen die Kleinen dann das Warten auf die Erfüllung eines Wunsches, das Aushalten einer Sehnsucht oder auch des Schmerzes eines Verlusts. Nicht zuletzt zu Weihnachten wird die Geduld der Kinder auf die Probe gestellt: Vierundzwanzig Türchen gibt es zu durchschreiten und vier Adventsfeiern bis zum ersehnten Fest. Selbst in der heutigen Zeit, in der Wünsche zunehmend sofort erfüllt werden können, scheint dieses traditionelle Geduldstraining zu überdauern. Wer diese und viele andere Trainingseinheiten in der Kindheit nicht absolviert, wird zu einem ungeduldigen Menschen werden.

Damit ist das Wort „Training“ gefallen. Geduld muss trainiert werden – was wiederum Geduld erfordert. Verzwickt, oder? Wer Geduld lernen will, muss sich dem Ernstfall aussetzen und bewusst auf die Erfüllung eines Bedürfnisses warten, muss es aushalten, dass es in den Fingern kribbelt, muss sich der Ungewissheit aussetzen, wie lange es noch dauern wird. Wer dies im Kleinen schafft, wird auch geduldiger im Größeren sein.

Technologie im Allgemeinen und künstliche Intelligenz im Speziellen sind allerdings nicht dazu geeignet, Geduld zu trainieren. Sie sind für das Gegenteil konzipiert: das schnellere Erreichen eines Zieles. Das Auto bringt uns nicht nur bequemer von A nach B, sondern auch schneller; der Industrieroboter baut dieses Auto nicht nur präziser, sondern auch schneller; die KI lässt diesen Roboter nicht nur müheloser lernen, sondern auch schneller. Der technische Fortschritt erleichtert es uns nicht gerade, uns in Geduld zu üben.

Wer Geduld erlernen möchte, muss sich der Technologie bewusst entziehen:

  • zu Fuß gehen, obwohl – nein: weil – es länger dauert
  • kreative Ideen mühsam selbst erringen und das eigene Denken bemühen, anstatt ein vortrainiertes neuronales Netzwerk zu befragen
  • Unwissenheit aushalten und dem Impuls widerstehen, eine unbekannte Info umgehend zu ergooglen
  • einen Weg ersuchen, anstatt das Navi zu verwenden
  • Social Media mal ruhen lassen
  • kochen statt Pizzaservice

Ungerechte Welt

Ja, vielleicht stimmt es: Die schönen Momente sind immer zu kurz, die blöden Sachen dauern ewig. Vielleicht stimmt es aber auch nicht. Vielleicht ist es nur gefühlt so ungerecht. Und überhaupt: Was heißt eigentlich ungerecht? Haben wir etwa ein Recht auf schöne Dinge im Leben?

Nein, niemand hat ein Recht auf irgendetwas. Gerechtigkeit ist eine Erfindung der Menschen. Doch je besser unser Leben wird, desto mehr glauben wir, das müsste so sein. Schöne Momente genießen zu können, empfinden wir heute als Gewohnheitsrecht, mehr jedenfalls als die Menschen früherer Zeiten, in denen sowohl Arbeit und Mühsal als auch Krankheit und Tod präsenter waren. Wir haben immer größere Ansprüche an unser Leben, und diese werden sogar weitgehend erfüllt (im reichen Westen!). Die Technologie hat großen Anteil daran. Künstliche Intelligenz wird das weiter forcieren.

Doch mal abgesehen von der Gerechtigkeitsfrage: Vielleicht ist es gut, wenn schöne Momente von eher kurzer Dauer sind. Verschiedene Redensarten zeigen in diese Richtung. „Man sollte gehen, wenn es am schönsten ist“, also nicht erst, wenn man alles bis zuletzt ausgekostet hat. Oder auch: „Wenn es dunkel ist, strahlt das Licht besonders hell.“ Vielleicht kann geduldiger sein, wer dies verinnerlicht hat, wer dem Guten gerade durch das Schlechte seinen Wert zumisst, wer einfach zufriedener ist.

Genügsamkeit

„Panik ist nicht angebracht – noch nicht“

Werden wir dümmer?, Focus 2019

Zufriedenheit – nicht gerade eine Kernkompetenz in heutiger Zeit der Maßlosigkeit. Nicht nur materiell können wir uns beinahe alle Wünsche erfüllen, auch unsere Bequemlichkeit (ein schon häufiger auf dieser Website zitierter Begriff) wird zunehmend bedient, aktuell besonders durch digitale Technologien und künstliche Intelligenz. All das, was ich im vorvergangenen Abschnitt in einer Aufzählung genannt habe (die Vorschläge, uns der Technologie zu entziehen), machen wir heute eher nicht. Die Technik verleitet uns dazu und wir nehmen die Annehmlichkeiten gerne an. Dadurch werden wir weder klüger noch gesünder. Und nach meiner subjektiven Beobachtung auch nicht zufriedener. Im Gegenteil: Je mehr man hat, desto mehr will man noch obendrauf.

Zufriedenheit ist eine Tugend wie die Geduld. Wer die Zufriedenheit lernt, erlernt auch die Geduld. Wer zufrieden ist, hat genug und strebt nicht nach mehr. Doch gibt es auch das Wort Genügsamkeit. Dieses ist noch besser geeignet, dem Begriff Geduld beizustehen, denn die Geduld hält ja gerade die unerfüllten Wünsche aus und nicht etwa den Zustand voller Erfüllung. Zufriedenheit und Genügsamkeit entsprechen den englischen Worten satisfaction und contentment. Über diese schreibt ein englischsprachiges Wörterbuch:

„Contentment is passive; satisfaction is active. The former is the feeling of one who does not needlessly pine after what is beyond his reach, nor fret at the hardship of his condition; the latter describes the mental condition of one who has all he desires, and feels pleasure in the contemplation of his situation. A needy man may be contented, but can hardly be satisfied.“

„Contentment ist passiv; satisfaction ist aktiv. Ersteres beschreibt das Gefühl eines Menschen, der nicht unnötig nach Unerreichbarem verlangt und sich nicht über die Schwierigkeiten seiner Lage grämt. Letzteres hingegen beschreibt den Geisteszustand eines Menschen, der alles hat, was er sich wünscht, und Freude daran empfindet, über seine Situation nachzudenken. Ein bedürftiger Mensch mag contented sein, aber kaum satisfied.“

Century Dictionary, 1889-1891, hier online, Stichwort contentment

Warum diesen Unterschied herausstellen? Weil er deutlich macht, dass es bei der Geduld um eben unerfüllte Wünsche geht. Es geht nicht darum, zufrieden zu sein mit dem, was man hat, sondern ohne das, was man nicht hat. Ersteres ist leicht, Letzteres erfordert eben die Duldsamkeit, die Geduld.

Grenzen erdulden

Aber sind wir zur Geduld bereit? Oben schrieb ich schon, dass es Situationen gibt, in denen sie fehl am Platz ist. Jeder Arbeitskampf etwa gründet auf Unzufriedenheit. Er ist aber in der Lage, die Lebensbedingungen zu verbessern, indem er einen Tarifabschluss hervorbringt, der die Zufriedenheit wiederherstellen kann. Doch jeder Arbeitskampf hat eine Grenze des Sinnvollen. Arbeitnehmende sollten ihre Forderungen mit Augenmaß aufstellen, um die Unternehmen nicht so sehr zu belasten, dass eine Insolvenz droht und damit der Zusammenbruch. Zufriedenheit über Erreichtes muss durch Genügsamkeit ergänzt werden! Überall auf der Welt gibt es die Grenzen des Machbaren und des Sinnvollen. In allen Lebensbereichen gilt es, maßzuhalten und innerhalb eines gewissen Limits duldsam zu sein.

Welche Grenzen sind das? Meist ist es die Natur, die sie vorgibt. Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen und viele weitere moderne Beschwerden, die durch Bewegungsmangel begünstigt werden, zeugen davon, dass wir diese Grenzen längst überschritten haben (im Artikel Körperliche Entlastung schreibe ich mehr darüber). Aber ebenso Waldsterben, Smog und Klimawandel. An der Natur und der Physik können wir nichts ändern. Wir müssen diese Grenzen akzeptieren, nein: erdulden. Genügsamkeit ist also tatsächlich und ganz objektiv eine Tugend.

Zentrale Tugend

Es gibt Kulturen, die das seit Jahrtausenden verinnerlicht haben. Der Buddhismus etwa kennt gleich drei Arten der Geduld:

  • die Geduld mit Menschen, die einen schädigen
  • die Geduld dem eigenen Leiden gegenüber
  • die Geduld, die Geduld zu erlernen

Die Geduld den Menschen gegenüber, die uns nichts Gutes wollen, wird oft als die wichtigste Form bezeichnet. Sie steht dem Zorn gegenüber, der uns ganz automatisch überkommt, wenn man uns nicht gut behandelt. Der Impuls zur Vergeltung und das Gefühl des Hasses sind normale Reaktionen auf die Bösartigkeit anderer. Sich dem aber zu entziehen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem glücklichen Leben. Wut und Zorn vergiften nicht nur das eigene Seelenleben, sondern ebenso das soziale Miteinander. Geduld mit garstigen Menschen dagegen, auch Nachsicht und Vergebung, helfen sowohl der eigenen Gesundheit als auch der Gemeinschaft.

Die Geduld dem eigenen Leiden gegenüber ist verwandt mit der ersten Form. Auch hier geht es um das Erdulden, diesmal aber des persönlichen Schicksals. Umstände, die nicht geändert werden können, können nun einmal nicht geändert werden. Auch der Zorn auf die Situation kann nichts zum Guten verändern, zum Schlechten aber allemal. Gram über das eigene Leid kann Menschen zerfressen, ändert aber nichts am Leid, kann es stattdessen sogar intensivieren. Dieses Leid aber anzuerkennen, vielleicht sogar Positives darin zu finden („In jeder Krise steckt eine Chance“), hebt die persönliche Stimmung und verhilft zu neuer Kraft.

Geduld mit Sand-Mandala in Tibet
Sand-Mandala in Tibet …
(→ Video bei YouTube)
Geduld mit Sand-Mandala, wie KI es sieht
 … und wie KI es sieht

Die Geduld, die Geduld zu erlernen, habe nur ich so benannt – weil es ein schönes Wortspiel ist. Vermutlich trifft es nicht den Kern. Eigentlich gilt diese Geduld dem Dharma, was ein durchaus großer Begriff ist. Sie bezeichnet all die Mühen, die jemand auf sich nimmt, die Erleuchtung zu erreichen. Die Meditation etwa ist ein wichtiger Baustein im Buddhismus, doch ebenso die Beschwernis, die beiden ersten Formen der Geduld zu erlernen. Dass es dabei immer wieder Rückschläge gibt, ist im Buddhismus völlig klar; somit geht es also auch um Geduld mit sich selbst. Da ich mich aber im Buddhismus nicht gut auskenne, sollte ich an dieser Stelle vielleicht besser schweigen ;-) Es gibt Menschen, die all das besser erläutern können (auch hier).

Eines aber meine ich verstanden zu haben: Die Geduld ist eine zentrale Tugend im Buddhismus. Sie wird als Grundlage für ein glückliches Leben einerseits, aber andererseits auch für ein gelingendes Miteinander angesehen. Somit lohnt es sich allemal, auch für Nicht-Buddhisten, sich entschieden der Geduld zu verpflichten.

Künstliche Intelligenz und menschliche Geduld

Die künstliche Intelligenz wurde entwickelt, um menschliche Grenzen zu überwinden. Wir werden uns daran gewöhnen – und haben es längst – dass KI unsere übermenschlichen Wünsche erfüllt, und zwar umgehend. Auch ich kenne den Impuls, nach dem Smartphone zu greifen – sofort – um einen gerade auftauchenden, unbekannten Begriff zu googlen. „Was bedeutet eigentlich Geduld?“, frage ich mich und schupps – Wikipedia gibt mir die Antwort; oder heutzutage ChatGPT und Co. Ich muss nicht mehr bis zu Hause warten, wo ich an einem großen Bildschirm recherchieren würde, und schon gar nicht, bis ich in der Bibliothek eine Enzyklopädie bemühen kann. Die Antwort auf jede Frage ist heute sofort verfügbar, daran haben wir uns längst gewöhnt. Das meinte ich oben mit: „Technologie im Allgemeinen und künstliche Intelligenz im Speziellen sind allerdings nicht dazu geeignet, Geduld zu trainieren.“ Tatsächlich wird KI sie uns völlig abtrainieren.

Mit folgendem Ergebnis: Wir kennen keine Wartezeiten mehr, die uns die Muße schenken, einmal selbst nachzudenken, tief und intensiv, oder gemeinsam mit anderen Menschen darüber zu diskutieren – in aller Ahnungslosigkeit und Unperfektheit. All dies könnte uns selbst und unser soziales Zusammenleben maßgeblich formen. Doch was übrig bleibt, sind potenziell kluge Wesen, die aber nicht viel lernen.

Selber denken macht unsere Intelligenz aus.
Nein, selber denken erzeugt erst unsere Intelligenz.

Lassen wir künstliche Intelligenz für uns denken, werden wir nicht klüger, sondern dümmer, weil KI uns den letzten Rest Geduld raubt, den uns die Technologie bisher noch nicht genommen hat: die Geduld nämlich, Unwissenheit zu erdulden, und die Geduld, die Qualen auszuhalten, sich Wissen selbst zu erdenken.

Persönliches Fazit

Die Geduld halte ich für eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen. Sie ist Grundlage für unsere Intelligenz und unsere geistige Gesundheit. Zwar gilt es auch, die Umwelt zum Vorteil zu verändern, doch dem sind natürliche Grenzen gesetzt, die Natur und Physik vorgeben, oft genug auch Menschen. Maßhalten ist somit Bedingung für das Überleben, das gesunde Überleben. Maßhalten lehrt uns Geduld, die Geduld hilft uns maßzuhalten.

Für mein Empfinden sind Menschen nur unter großen Anstrengungen maßvoll und geduldig. Das Übertreiben und die Eile scheinen ihnen mehr zu liegen. Es mag Kulturen geben, für die das so nicht gilt, doch ich kenne es eher so, dass die Achtsamkeit nicht so weit verbreitet ist; der Wunsch nach Ablenkung in widrigen Situationen und der Unwille, Unangenehmes auszuhalten um so mehr. KI hilft uns leider gar nicht dabei.

Wir moderne westliche Menschen können auch so schon nicht mit besonders viel Geduld aufwarten. Die künstliche Intelligenz aber wird uns – wenn wir nicht achtsam sind – ganz automatisch auch das letzte Bisschen davon nehmen, ohne dass wir es überhaupt bemerken.

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Sand-Mandala in Tibet …
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